0173 - Die Werwolf-Sippe
danach. Jovanka zog Knie und Schultern an. Sie rollte sich zusammen wie eine Katze. Hin und wieder warf ihr der Mann einen spöttischen Blick zu.
Jovanka schaute aus dem Fenster. Die Straße kannte sie. Sie führte der Küste entgegen und damit auch nach Graveline, dem Ort, aus dem auch die Männer gekommen waren. Es war keine breite Hauptstraße, sondern eine kurvenreiche Strecke, zum Teil nicht einmal gepflastert, sondern nur mit Kopfsteinen bedeckt, wie in Graveline. An diesem kleinen Ort ging das Leben vorbei. Einfach deshalb, weil Calais in der Nähe lag. Von dort legten die Fähren über den Kanal ab.
Jovanka sah vor sich einige Lichter schimmern. Das war schon Graveline. Rechts davon lag die Schule. Sie war wie das Schloß auf einen Felsen gebaut worden, und bei klarem Wetter konnte man in der Ferne das Meer sehen.
Langsam begann Jovanka nachzudenken. Dieser Mann verhielt sich äußerst schweigsam, er hatte bisher nicht seinen Namen genannt, und das Mädchen wollte endlich wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Deshalb fragte sie: »Wie heißen Sie?«
Da lachte er.
Im Wagen war es fast dunkel. Die Instrumentenbeleuchtung schuf ein fluoreszierendes grünes Licht, das sich als matter Schein über die Gesichter der beiden Menschen legte.
Doch dieses Grün wurde unterbrochen. Jovanka merkte, als etwas Rotes leuchtete.
Sie drehte den Kopf.
Der Mann fuhr langsamer. Bis auf die Hälfte ging er mit der Geschwindigkeit zurück und wandte Jovanka für einen Moment voll sein Gesicht zu.
Die junge Zigeunerin schrie auf!
Jetzt wußte sie, woher der rote Schein kam.
Auf der Stirn des Fahrers prangte das Zeichen, das Mal der Vaselys. Es gab keine andere Erklärung. Der Mann, der neben Jovanka saß, war ihr Bruder!
***
Sie brauchte ein paar Sekunden, um die Erkenntnis zu begreifen.
Dann flüsterte sie: »Du bist mein Bruder?«
»Sicher.«
Jovanka atmete tief durch. Gerettet! schoß es ihr durch den Kopf.
Das Gefühl der Freude war wie ein atemberaubender Rausch, der sie erfaßt hatte.
»Gerettet!« flüsterte sie. »Ich bin gerettet.«
Ihr Bruder lachte. »Ja, du hast Glück gehabt, meine Liebe. Sogar großes Glück. Aber wir Vaselys entgehen unserer Bestimmung nicht. Keine Angst.«
Sie nickte.
Marcel zündete sich eine Zigarette an. Im Schein der kleinen Flamme wirkte sein Gesicht noch schmaler. Es hatte ein raubtierhaftes Aussehen. Erst jetzt fielen dem Mädchen die zahlreichen kleinen Haare auf, die den Arm und die Hände des Mannes bedeckten. Manche Frau hätte sich abgestoßen gefühlt, nicht so Jovanka.
Sie fühlte sich als gleiche unter gleichen.
»Und wo fährst du jetzt hin, Marcel?«
»Zu mir.«
»Gut.«
»Jurina ist tot«, stellte der Mann fest. »Da können wir nichts mehr machen.«
»Und wer hat sie umgebracht?« fragte Jovanka. »Hast du den Mörder gesehen.«
»Es waren viele. Da ist jeder schuld.«
»Werden wir ihren Tod rächen?«
»Das ist möglich. Die Vaselys haben sich lange genug geduckt. Der Fluch des alten Blutes muß in Erfüllung gehen, meine Kleine. Wir alle sind daran beteiligt, keiner darf sich drücken. Auch du nicht, Jovanka.«
»Und Silva?«
Da hob Marcel die Schultern. »Sie ist eine unbekannte Größe in unserem – Rachespiel.«
»Dann kennst du sie nicht?«
»Nein.«
»Wo kann sie sich denn herumtreiben?«
»Das weiß ich auch nicht. Sie muß aber dem Ruf des Blutes Folge leisten. Eine andere Chance gibt es nicht, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja, natürlich.«
Marcel bog kurz vor dem Dorf rechts ab. Über eine schmale Straße fuhr er hoch zum Internat. Eine Steinmauer begrenzte die Fahrbahn an der linken Seite. Dort wuchs Efeu und breitete sich auch immer weiter aus. Die Kurven waren eng. Marcel nahm sie mit der Routine eines Könners.
»Und Lupina?« fragte das Mädchen.
»Sie ist die große Unbekannte.«
»Was ist, wenn sie kommt?«
»Haben wir ihr zu gehorchen«, erwiderte der Mann. »Sie ist die Königin der Wölfe.«
Jovanka warf ihrem Bruder einen schnellen Blick zu. »Gefällt dir so etwas?«
»Darauf kommt es nicht an, kleine Jovanka. Ich habe zu gehorchen, du mußt gehorchen.« Er fuhr auf einen Parkplatz, stoppte und stieg aus.
»Einen Koffer hast du nicht?« fragte er.
»Nein.«
»Wir werden dir schon neue Kleider besorgen.« Er legte brüderlich seinen Arm um ihre Schulter, als sie auf ein kleines Tor zugingen.
»Was werden die anderen sagen, wenn sie dich so sehen?« fragte Jovanka.
»Was sollen sie sagen? Nichts.«
»Da
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