0173 - Die Werwolf-Sippe
bin ich mir nicht so sicher.«
»Außerdem bist du meine Schwester.«
»Was nicht alle wissen.«
»Das geht die anderen nichts an und fertig. So, jetzt laß uns aber hochgehen.«
Marcel Vasely schloß die Tür auf. Niemand von ihnen ahnte, daß sie bereits beobachtet wurden…
***
Es waren brennende Blicke, die gegen ihren Rücken stachen und wie Dolche wirkten.
Ein Mädchen stand am Fenster, schaute hinunter in den Hof, sah den Wagen und bekam mit, wie die beiden ausstiegen. Den Mann hatte sie genau erkannt.
Es war Marcel!
Ihr Marcel.
Und er hatte eine andere bei sich. Ein anderes Weib. Er wollte sie betrügen, obwohl er ihr seine Liebe geschworen hatte. Sie erinnerte sich noch deutlich an die Worte, und jetzt war wieder alles vergessen.
Aber das hatte er nicht umsonst getan, das nicht. Die beiden verschwanden. Sie nahmen den Seiteneingang, dort ging es auch zu den Wohnungen des Lehrpersonals. Den Weg kannte sie im Schlaf.
Mehr als einmal war sie ihn gegangen.
Sue Rutland wußte genau, was sie zu tun hatte. Wenn du mich betrügst, bringe ich dich um, hatte sie einmal in einer schwachen Stunde gesagt. Dann töte ich dich.
»Das kannst du ruhig!« So lautete die Antwort. Marcel hatte damals gelacht. Er ahnte nicht, wie ernst es Sue mit ihrem Versprechen gewesen war.
Sie würde ihn töten!
Während sie den schmalen Schrank öffnete, rannen Tränen aus ihren Augen. Sie machte kein Licht. Was sie finden wollte, das fand sie auch in der Dunkelheit.
Eine Pistole.
Die Waffe hatte sie vor einigen Monaten im Wald gefunden. Es war eine Armeepistole, die irgend jemand vergessen hatte. Sue stolperte buchstäblich darüber. Sie nahm die Pistole an sich und stellte fest, daß sie geladen war.
Und Sue kannte sich mit Waffen aus. Ihr Vater besaß eine stattliche Sammlung. Er hatte sie einige Male zum Schießplatz mitgenommen und ihr das Schießen erklärt. Sue war gewissermaßen eine Naturbegabung gewesen, sie brauchte nicht groß zu üben, sie traf, wenn sie schoß.
Trotz ihrer Aufregung wirkten die Bewegungen, mit denen sie die Pistole durchcheckte, ruhig und gelassen. Dann nickte sie zufrieden und verstaute die Waffe im Gürtel des Rocks.
Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einen Blick zum Fenster. Am Himmel stand der Mond.
Sue zuckte zusammen.
Sie hatte den Erdtrabanten lieben gelernt. Nicht zuletzt wegen ihres Lehrers, der von dem Vollmond begeistert war. Auch Sue spürte die Kraft, die von ihm ausging. Früher hätte sie so etwas nie für möglich gehalten. Heute war alles anders.
Ja, es war wirklich alles anders. Verflogen der Zauber. Hinweggewischt die Liebe, verschwunden die langen Nächte voller Zärtlichkeit. Aus Liebe war Haß geworden. Eine Flutwelle, die sich einfach nicht mehr stoppen ließ.
Sue verließ das Zimmer. Sie trat hinaus in den Gang, wo alles so ruhig war. Kein Laut drang an ihre Ohren. Sie konnte die Stille schon fast greifen.
Auf Zehenspitzen ging sie weiter. Die rechte Hand lag auf der Waffe. Sie spürte das kühle Metall und dachte daran, wie leicht es sein würde, Marcel zu töten.
Unhörbar gelangte sie an die Zimmertür ihres Lehrers. Dort blieb sie stehen und legte ein Ohr gegen das Holz.
Keine Geräusche.
Das hatte allerdings nichts zu sagen, das Holz war dick, es schluckte den Schall.
Hatte er abgeschlossen?
Sie legte ihre Hand auf die Klinke. Jetzt kam es darauf an. Wenn er nicht zugeschlossen hatte, dann war er verloren. Dann würde ihn nichts mehr retten.
Sue drückte die Klinke nach unten. Die Tür war offen! Fast hätte sie einen Jubelschrei ausgestoßen. Im letzten Augenblick konnte sie ihn unterdrücken. Sie lehnte sich gegen die Tür und stieß sie auf.
Sie knarrte nicht in den Angeln. Lautlos schwang sie nach innen.
Der Weg war frei.
Ein düsteres Zimmer. Der Mond war weitergewandert. Sein Schein fiel nicht mehr durch das Fenster. Sue sah die beiden Gestalten, die im Bett nebeneinanderlagen und schliefen. Sie wischte sich über die Augen und ging noch näher heran. Nein, das waren keine zwei Gestalten, sondern nur eine. Im ersten Augenblick hatte sie sich täuschen lassen.
Die zweite lag auf dem Boden, und zwar dicht neben dem Fenster, dessen rechter Flügel offenstand.
Sue schaute genauer hin und erkannte das Mädchen, mit dem Marcel gekommen war.
Ein böses Lächeln umspielte die Lippen der Schülerin. Auch die Fremde würde an die Reihe kommen. Sue scheute auch vor einem Doppelmord nicht zurück.
Sie ging noch näher an das Bett heran und
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