0178 - Stadt der toten Seelen
Knochen seiner Zeige- und Mittelfinger, die ein Quadrat bildeten, sah er, was jener Zamorra tat, den sie in seiner Welt den Meister des Übersinnlichen nannten. Zamorra hatte die magische Zeichnung gefunden, mit der der Knöcherne den Weltentor-Schrotschuß durchgeführt hatte. Aber er konnte nichts damit anfangen.
Der Totenschädel grinste höhnisch.
Zamorra war am Ende seiner Weisheit angelangt, aber die Überraschungen würden erst beginnen. Denn die toten Seelen waren bereits erwacht und lauerten auf ihre Chance.
Der Knöcherne bedauerte, daß sein Schrotschuß nur so wenige Opfer gefunden hatte. Je mehr, je besser… Denn jeder herübergeholte Mensch bedeutete einen Erfolg und einen Seelentausch.
Vorläufig würden also nur sieben »Tote« ein neues Leben erhalten.
Sieben, durchfuhr es den Knöchernen. Eine magische Zahl. War es Zufall, daß es ausgerechnet sieben geworden waren?
An den Wolf verschwendete er keinen Gedanken, aber in der Zahl sieben sah er plötzlich eine Gefahr.
Er machte sich bereit, einzugreifen.
***
»Keine Gefahr«, keuchte Rolf Kaiser. »Keine Gefahr, Moni. Sie sind tot, und tot werden sie bleiben.«
In einer Instinktreaktion hatte das Mädchen seinen Oberarm umklammert und sich schutzsuchend an ihn gelehnt. Jetzt löste sie sich wieder von ihm.
»Jener, der Zamorra angriff, war auch tot, ist es aber nicht geblieben«, sagte sie seltsam betont.
Menschen lagen in diesem Raum auf dem nackten Boden - Menschen waren es einmal gewesen, als sie noch lebten, jetzt aber gab es nur noch Skelette! Skelette, die bekleidet waren, und aus den weißen einteiligen Anzügen ragten Knochenhände hervor und grinsten Totenschädel heraus.
»Furchtbar«, flüsterte Monica.
Die Skelette lagen so, als hätte der Tod sie überrascht. Fünf waren es. Sie mußten in dem leeren Zimmer zusammengebrochen sein. Einer lag auf dem anderen, und einer hatte sich im Sterben furchtbar verkrümmt und verdreht. Blitzartig mußte das Ende gekommen sein und ihnen keine Chance gegeben haben, sich zu wehren.
Rolf Kaiser schluckte. Langsam näherte er sich den Toten. Wie lange mochten sie schon hier liegen? Hundert Jahre? Tausend? Oder noch länger?
Kahl waren die Schädel, etwas zu kahl für Rolfs und Monicas Begriffe. Beide wußten, daß auch dann, wenn der Tod schon eingetreten war, Haare, Finger- und Zehennägel noch eine längere Zeit weiterwuchsen und auch nicht so rasch zerfielen wie das Fleisch. Demzufolge mußten die Skelette schon sehr, sehr lange hier liegen.
Rolf kniete neben einem der Toten nieder und berührte die weiße Kleidung. Sie war nicht verschmutzt und auch nicht vergilbt.
»Plastik?« fragte Monica.
Rolf schüttelte den Kopf. »Es muß etwas anderes ein«, sagte er. »Naturfaser.«
»Müßte auch zerfallen sein, wenn die Totenhaare schon zerfallen sind«, widersprach sie. »Aber es gibt keine Alterserscheinungen an dem Material. Eigenartig.«
»Und keine Nähte und keine Knöpfe oder Reißverschlüsse«, sann Rolf. »Wie sind die da bloß eingestiegen?«
Seine Hand strich über den Brustteil des weißen Anzuges.
Der öffnete sich!
Präsentierte kahle Rippen, die so bleich waren wie Hände und Kopf!
»Ich werde verückt«, stieß Rolf hervor. »Das ist ja wie im Film!«
Er vollzog die Handbewegung über dem Brustbein des Toten in umgekehrter Richtung, und der weiße Overall schloß sich wieder. »Wie im Sciencefiction-Film«, wiederholte Rolf und öffnete den Anzug wieder. »Ob der alte Knabe wohl etwas dagegen hat, wenn ich ihm das Ding abnehme und selbst anziehe? Immer mit dieser Russenjacke herumzulaufen, ist auch kein Vergnügen und bringt böse Blicke von der alten Bauerntante ein.«
Monica schürzte die Lippen.
»Er braucht seinen Anzug sowieso nicht mehr«, entschuldigte Rolf sein Tun und begann, das Skelett von der Bekleidung zu befreien. Es war das einzige Kleidungsstück, das der Tote getragen hatte; vielleicht waren aber auch die anderen Teile weniger haltbar gewesen und hatten die Jahrhunderte oder Jahrtausende ebensowenig überdauert wie Haare und Nägel.
Rolf hob den Overall. »Der ist ja leichter als eine Feder«, wunderte er sich und faltete ihn probeweise zusammen. Filmdünn mußte das Material sein, denn zusammengelegt konnte man es bequem in einer Hosentasche verstauen, ohne daß die sich über Gebühr aufblähte. Rolf entrollte den Anzug wieder und stieg hinein.
Wie eine zweite Haut legte er sich um seinen Körper und zeichnete jeden Muskel nach, ohne
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