0185 - Unser Hit in Harlem
Uhr abends. Dort, wo die Ärmsten der Bewohner Harlems in drangvoller Enge hausten, wusste niemand davon, dass in der vergangenen Nacht in der 139th Street ein wohlhabender Wäschereibesitzer ermordet worden war; niemand, außer Sammy Lynbett selbst. Es gab in diesem Bezirk keine Familie, die ein Radio besessen hätte. Es gab niemanden, der auf den Gedanken gekommen wäre, einen Nickel für eine Zeitung auszugeben. Jeder war froh, wenn der Verdienst reichte, um das Brot für die meist große Familie zu kaufen.
Sammy schlug den gewöhnlichen Weg in Richtung zu seiner Arbeitsstelle ein, denn er wüsste, dass seine Mutter ihm nachsah. Für die Frau aus dem Süden der Staaten war New York ein riesiges, unverständliches und gefährliches Gebilde, und jeden Abend blickte sie ihrem Sohn voller Angst nach, wenn er die schützende elterliche Wohnung verließ, um einen Dollar oder zwei zu verdienen; ein kleiner tapferer Junge im Getriebe der unbarmherzigen Stadt.
Erst als Sammy außer Blickweite war, schlug er eine Querstraße ein, die zum Fluss führte. Er ging an der Kaimauer entlang, eine Hand in der Hosentasche, wie es seine Gewohnheit war, aber die andere auf die Stelle seines abgewetzten Pullovers gepresst, unter der er den Brief von Mr. Nelsons Schreibtisch trug.
Sammy hatte es fertiggebracht, zu verschweigen, was er gesehen hatte. In ihm lebte die Erfahrung von Generationen, die durch Jahrhunderte das Schweigen gelernt hatten, wenn so etwas wie im Büro von Mr. Nelson geschah. In der Kleinstadt, in der Sammy geboren war, hatte sich in rund zweihundert Jahren wenig geändert. Seine Mutter hatte ihm, wenn sie ihn auf ihren Knien wiegte, die gleichen Verhaltungsmaßregeln ins Ohr gemurmelt, die sie von ihrer Mutter und diese wieder von der ihren erhalten hatte.
»Geh den Weißen aus dem Weg! Tritt vom Bürgersteig herunter, wenn sie dir entgegenkommen. Sieh nicht ihren Mädchen nach! Was immer die Weißen tun, bemerke es nicht, höre es nicht, sage es niemanden!«
Sie hatte diese Sätze gesagt, als Sammys Gehirn noch nicht entwickelt genug war, um sie zu verstehen, und sie hatte sie durch Jahre hindurch wiederholt, ja, sie sagte sie manchmal noch heute.
Sams eigene Erfahrungen kamen hinzu. Er war von weißen Kindern, die gerade noch mit ihm gespielt hatten, geschlagen und fortgejagt worden, ohne dass er den Grund begriff. Mit acht Jahren war er Augenzeuge einer jener Negerhetzen geworden, die im Süden manchmal aufflammen wie ein Steppenbrand. Er hatte den Mann gesehen, den sie hetzten, sein blutüberströmtes Hemd, seine aufgerissenen Augen, aus denen die Todesangst schrie. Er hatte das Grölen der Menge gehört, die sich vor dem Polizeirevier ballte, in das der Gehetzte sich hatte flüchten können, und er spürte heute noch den heftigen Ruck an seinem Arm, mit dem seine Mutter ihn von der Straße ins Haus gerissen hatte.
Das alles hätte genügen müssen, um aus Sammy einen verschüchterten Menschen zu machen, der eines Tages die gemurmelten Ratschläge seiner Mutter an seine Kinder weitergeben würde, wie er sie empfangen hatte. Aber in Sammy Lynbett war ein anderes Gefühl wach geworden.
Er war in eine Schule gegangen, und er hatte wie alle amerikanischen Kinder die Verfassung der Vereinigten Staaten gelesen, sobald er überhaupt lesen konnte.
Er begriff nicht alles, aber einige Sätze prägten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis. Allen Menschen wurde die Gleichheit vor dem Gesetz versprochen. Jedermann, unabhängig von der Rasse, der Religion, besaß das gleiche Recht auf Freiheit, auf Arbeit, auf Leben. Sammy begann zu verstehen, dass es Unrecht war, wenn die Kinder ihn schlugen und fortjagten; dass es Unrecht war, wenn Männer einen Mann hetzten wie ein Wild. Der Junge begriff, dass niemand tun durfte, was die Männer mit Mr. Nelson getan hatten.
Aber er verstand auch, dass seine Mutter unrecht hatte. Man durfte nicht fortsehen, wenn die Gesetze verletzt wurden. Man musste helfen. Das Recht konnte nicht siegen, wenn man das Unrecht geschehen ließ.
Solche Gedanken gingen dem Jungen durch den Kopf. Er hatte sich auf die Kaimauer gesetzt und ließ die Beine baumeln. Unter ihm gurgelten die schmutzigen Fluten des Harlem River. Seitlich in einiger Entfernung wölbte sich eine Eisenbahnbrücke über den Fluss. Das Licht der Bogenlampen, die sie beleuchteten, riss das grau-braune Wasser aus der Dunkelheit. In kurzen Abständen donnerten Züge über die Brücke, die dann auf eine unterirdische Weise zu
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