0188 - 7 Uhr - die Stunde des Todes
Eltern abgeben, ohne daß der Kidnapper sich selbst mit ihnen in Verbindung setzen müßte. Nicht schlecht ausgedacht. Aber das Schicksal ist bei jedem Plan die unbekannte Größe, die man berücksichtigen sollte. Das Schicksal nämlich kam dazwischen. Der Junge kriegte gestern abend heftige Schmerzen, die eine sofortige Überführung ins Krankenhaus und eine operative Entfernung des Blinddarms notwendig machten. Davon wußte der Kidnapper nichts. Deshalb wunderte er sich heute früh, weil das Kind nicht kam. Die Entführung mußte natürlich ausfallen. Was er allerdings nicht mehr rückgängig machen konnte, war das Aufgeben des Briefes. Er konnte doch nicht zur selben Zeit hier unten auf den Jungen warten und oben am Postamt 35 seinen Komplicen abfangen. Damit sind uns nun schon vier Dinge von diesem Kidnapper bekannt: Er weiß, daß Mrs. Scotty eine Erbschaft machte. Er weiß, daß der Junge jeden Morgen gegen halb acht zur Schule geht. Er weiß allerdings nicht, daß der Junge in der letzten Nacht ins Krankenhaus kam. Und viertens hat er einen Komplicen, der für ihn den Brief aufgeben soll. Die ersten drei Punkte treffen nicht allein auf den Kidnapper zu. Der Vater des Kindes beispielsweise weiß auch von der Erbschaft seiner Frau und kennt den Schulweg. Der Lehrer des Jungen wußte vielleicht ebenfalls von der Erbschaft. Er kannte den Schulweg, hatte aber heute früh noch keine Ahnung von der plötzlichen Erkrankung. Es gibt also mehrere Menschen, auf die Punkt eins und zwei oder gar eins bis drei zutreffen. Von dieser Seite her können wir den Täter nicht ermitteln. Also müssen wir doch noch mal auf Punkt vier zurückkommen: auf den Komplicen, der den Brief aufgeben sollte. Obgleich es aussichtslos erscheint, werden wir Nachforschungen bei der Post anstellen, um eventuell herauszufinden, wer den Brief aufgegeben hat.«
»Das dürfte aber kaum Erfolg haben«, brummte Snubbish. »Woher soll ein Postbeamter wissen, wer einen Brief in den Schlitz warf?«
Ich nickte ein paarmal. »Sehr richtig«, sagte ich. »Woher soll ein Postbeamter wissen können, wer einen Brief durch den Schlitz in der Wand einwirft? Keiner kann das wissen, denn niemand kann durch Mauern blicken. Aber wenn der Komplice nun gar kein echter Komplice ist?«
»Wie meinen Sie das?« fragte Marvin Scotty interessiert.
»Wenn er nun gar keine Ahnung hat, bei welchem Schurkenstreich er mitspielen soll? Angenommen, er ist nur von einem Fremden um die Gefälligkeit gebeten worden, einen Brief mit zur Post zu nehmen? Dann hat er doch keinen Grund, den Brief unbedingt in den Schlitz zu werfen?«
»Sie meinen, er unterschlägt den Brief?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf: »Nun, das wohl nicht. Aber ich stelle mir vor, daß es folgende Möglichkeit gäbe: Der Kidnapper hat seinen ahnungslosen Komplicen beobachtet. Er weiß vom ihm, daß der Mann jeden Morgen zu der Zeit, die dem Verbrecher angenehm ist, zur Post geht. Er bittet den Mann einen Tag vorher unter irgendeinem Vorwand, am nächsten Morgen einen Brief für ihn mit zur Post zu nehmen und aufzugeben. Der ahnungslose Mann geht darauf ein. Der Kidnapper bekommt die Erfüllung seines Wunsches zugesagt und ist zufrieden. Weil er damit rechnet, daß der Mann die Anschrift auf dem Brief lesen und später sich vielleicht ihrer erinnern könnte, händigt er ihm gleich drei Briefe mit Anschriften aus, von denen zwei vermutlich überhaupt nicht existieren. Nun geht unser ahnungsloser Mann zur Post. Er weiß nicht, daß er den Brief eines Kidnappers aufgeben soll. Er tritt an den Schalter für Drucksachen-Massenlieferungen und schiebt die Berge von Briefen über den Tisch, die seine Firma hinaussenden will. Um Zeit einzusparen, hat die Firma die Post gebeten, die Drucksachen mit der Maschine zu frankieren. An der wiederum steht ein junger Mann, dem der Einlieferer der Drucksachen kein Unbekannter mehr ist, denn der hat schon mehrmals viele Hunderte von Drucksachen auf der Post frankieren lassen. ›Und hier sind noch drei Eilbriefe‹, sagte der ahnungslose Komplice eines Kidnappers. ›Aber die sind schon frankiert.‹ Der Postbeamte sieht flüchtig die Briefmarken an, stellt die Frankiermaschine auf Null und läßt die Eilbriefe durchlaufen, um mit dem Stempel der Frankiermaschine die aufgeklebten Briefmarken zu entwerten. Danach macht er sich an die Drucksachen. Als er später gefragt wird, wer denn im Laufe des Vormittags einen Eilbrief eingeliefert habe, der durch Nullstempel der
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