0188 - 7 Uhr - die Stunde des Todes
es sonst noch was?«
»Ja. Bei einer genauen Untersuchung hatte der Doc gefunden, daß der Junge gefesselt und geknebelt worden ist. Am Mund sind winzige Reste vom Klebstoff eines Pflasters vorhanden. Unter der Zunge und zwischen den Zähnen wurden winzige Stoffreste und Fasern gefunden. Der Doc schließt daraus, daß man dem Jungen ein Tuch in den Mund geschoben hat und ihn durch aufgeklebtes Heftpflaster darin hinderte, das Tuch auszuspucken.«
»Das sieht ja wirklich nach einem Kidnapper aus! Er entführte das Kind, betäubte und knebelte es, damit es keinen Lärm machen konnte, und hat es später aus irgendwelchen uns noch unbekannten Gründen ermordet.«
»Ja«, gab Woolfe mit sorgenvoller Stimme zu. »So sieht es aus, Cotton. Kidnapping! Nur wird der Erpresser sich jetzt nicht mehr bei den Eltern melden. Da die Leiche des Kindes bereits gefunden wurde, kann er kein Lösegeld erpressen.«
»Okay, Woolfe. Immerhin darf man mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß dieser Fall ein Kidnapping ist.«
»Ja, der Meinung bin ich auch.«
»Außerdem können w ir jetzt eigentlich die beiden Fälle trennen. Der Banküberfall dürfte nichts mit dem Jungen zu tun haben. Ich habe noch nie gehört, daß Leute gleichzeitig eine Bank überfallen und ein Kidnapping durchführen.«
»Nein, das ist sehr unwahrscheinlich. Ich werde morgen früh mit dem Chef die Angelegenheit durchsprechen, damit wir die Teilung der beiden Fälle vornehmen können. Ich möchte weiterhin in der Mordsache arbeiten. Vielleicht übernimmt Johnson mit Harriet einen Teil der Leute und bearbeitet die Überfallsache.« Ich wünschte ihm eine gute Nacht, was er mit einem Gelächter quittierte, und legte den Hörer auf. Ein paar Minuten später klopfte es, und ein Kollege ließ Martley herein. Nachdem er Platz genommen hatte, zog ich mir sein erstes Vernehmungsprotokoll heran.
»Mr. Martley, Sie haben heute vormittag ausgesagt, daß Sie den Jungen gegen sechs gesehen hätten. Stimmt das?«
»Ja, Mr. Cotton. Abends zwischen fünf und sechs bin ich immer mit meinem Wagen unterwegs, um telefonische Aufträge zu erledigen. Viele Frauen in unserem Viertel bestellen bei mir telefonisch ihre Waren, und ich fahre sie ihnen ins Haus. Das tue ich gewöhnlich zwischen fünf und sechs.«
»War es genau sechs, als Sie den Jungen sahen?«
»Nein. Es muß noch vor sechs gewesen sein. Ich würde sagen: zwischen 5.45 Uhr und sechs.«
»War der Junge allein? Oder war irgend jemand bei ihm?«
»Er war allein.«
Ich fragte ihn, wo er ihn gesehen hätte. Er beschrieb mir die Lage des Hauses in einer Straße, die ziemlich in der Nähe des Elternhauses lag. Der Junge schien also offensichtlich auf dem Heimweg gewesen zu sein.
»Er ging natürlich in der Richtung, die ihn nach Hause geführt hätte?« vergewisserte ich mich.
»Nein!« behauptete Martley zu meiner Überraschung, während er sich mit einer pedantischen Bewegung seine Krawatte geradezog, die er altmodisch zu einem großen Knoten gebunden hatte. »Ich möchte eher sagen, er kam von zu Hause.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein. Ich saß doch im Auto.«
»Waren andere Kinder in der Nähe?«
»Nein, ich habe keine gesehen.«
»War es eigentlich schon dunkel, als Sie den Jungen sahen?«
»Nicht richtig dunkel. Aber ich hatte schon die Scheinwerfer eingeschaltet. Es war dieses graue Zwielicht der Dämmerung.«
»Verstehe. Waren Sie auf der Rückfahrt zu Ihrem Geschäft?«
»Nein. Ich kam gerade vom Geschäft. Ich hatte noch zwei oder drei große Tüten mit bestellten Waren abzuliefern.«
»Was für Kleidung trug der Junge?«
Er beschrieb dieselben Sachen, die wir auch bei dem Leichnam gefunden hatten.
»Hatten Sie den Eindruck, daß der Junge irgendwie verstört war?«
»Nein. Er erschien mir nicht anders als sonst. Freilich habe ich ihn nicht so genau beachtet, daß ich das beschwören könnte. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man am Steuer sitzt. Aus den Augenwinkeln sieht man diesen oder jenen Bekannten auf dem Gehsteig, aber man kann ja nicht auf ihn achten.«
»Ja, natürlich. Immerhin, Mr. Martley, Sie haben uns ein gutes Stück geholfen. Bisher fehlte die Spur des Jungen seit etwa fünf. Jetzt haben wir sie also bis kurz vor sechs, wenn auch noch eine Lücke klafft zwischen fünf, als er den Hof bei Ihnen verließ, wo er mit den anderen Kindern spielte, und sechs, wo Sie ihn auf der Straße sahen. Die Fragen, die sich jetzt stellen, sind: Was bewog den Jungen dazu, trotz
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