0196 - Die Mörderklaue
triumphierend und stiegen als Schwarm in die Höhe. Einige blieben neben Alan liegen. Im seinem wahnwitzigen Todeskampf hatte er sie noch gekillt.
Inzwischen war die »Arbeit« der übrigen Vögel weiter fortgeschritten. Sie hockten auf dem Sarg. Ihre spitzen Schnäbel hackten in das Holz, rissen lange Späne hervor und schufen so Löcher, die sie von Sekunde zu Sekunde vergrößerten, so daß ein Raum entstand, der bereits die Größe einer Hand besaß.
Und eine Hand schob sich hervor.
Eine grüne, schuppige Klaue. Größer als die normale Hand eines Menschen und mit langen Fingernägeln versehen, die ebenso glänzten wie die seltsame Haut. Nur wesentlich heller, als bestünden sie aus erstarrtem Gelee.
Die Hand bewegte sich.
Zuerst das Gelenk, dann jedoch übertrug sich die Bewegung auf jeden einzelnen Finger, der sich nach vorn krümmte, danach wieder gerade wurde und ausschließlich das gleiche Spiel von vorn begann. Es schien, als wollte die Tote die Gelenkigkeit ihrer Hand ausprobieren.
Die Vögel wichen zurück, als sie die Hand sahen. Sie hatten einen Teil ihres Zieles erreicht. Wild umflatterten sie den Sarg, behinderten sich gegenseitig und ließen sich dann auf dem Deckel nieder, um mit ihrer Arbeit fortzufahren.
Sie wollten es der Leiche so bequem wie möglich machen, den Sarg zu verlassen.
Die Vögel befanden sich in einer regelrechten Raserei. Jetzt, wo die beiden Menschen nicht mehr existierten, konnten sie sich ganz ihrer neuen Aufgabe hingeben. Sie hackten und zerstörten den Fichtensarg.
Späne flogen, regelrechte Fetzen wurden aus dem Deckel gehauen.
Wild schlugen die Tiere mit den Flügeln um sich, sie krächzen und schrien sogar manchmal, als wollten sie sich gegenseitig antreiben.
Immer größer wurde das Loch im Sargdeckel. Durch die Fenster strömten weitere Vögel, eine schwarze, flatternde Masse. Schreiend, krächzend, einfach nicht aufzuhalten. Als wäre der Sarg ein Futterplatz, so warfen sie sich auf ihn.
Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, da hatte es die geballte Macht der schwarzen Vögel geschafft. Der Deckel war so weit zerstört, daß die Leiche den Sarg verlassen konnte.
Eine Tote stand auf.
Iris Dexter, ein sechzehnjähriges Mädchen, erhob sich aus dem dunklen Gefängnis. Mit der rechten grünen Klauenhand drosch sie zu und fetzte ein paar Holzsplitter aus der Seitenwand. Daß dies beim ersten Schlag schon geschehen konnte, bewies, welch eine Kraft in dieser grünen Hand steckte.
Iris verließ den Sarg.
Ihre Bewegungen waren längst nicht so wie zu Lebzeiten. Sie wirkten hölzern, steif und ungelenk. Als bestünden ihre Gelenke aus eingerosteten Scharnieren.
Sie stolperte auch über den Sargrand und fiel nach vorn. Dabei durchstieß ihr Kopf auch das scheibenlose Fenster, wo nur noch die Splitter im Rahmen hingen. Ein scharfkantiger Splitter drang unter dem Kinn in die Haut ein, riß dort eine Wunde, aus der dickes Blut sickerte, das wie Sirup aussah und langsam als schmaler Streifen am Schlüsselbein herab lief, bevor es im Kragen des Leichenhemds versickerte.
Als Iris fiel, flatterten die Vögel zurück, blieben aber in der Nähe und zogen vor dem Leichenwagen ihre Kreise.
Iris kletterte aus dem Fahrzeug. Daneben blieb sie stehen und warf den Kopf in den Nacken. Ihr Blick war stumpf und leer. Er schien in unendliche Fernen zu gehen. Dann ging ein regelrechter Ruck durch ihre Gestalt. Der Arm mit der grünen Klaue fuhr in die Höhe, sank dann nach unten und blieb in einer waagerechten Haltung ruhen, wobei der Zeigefinger weiter nach vorn deutete und auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war.
Abgehackt drangen die folgenden Worte aus dem Mund der lebenden Leiche.
»Glora ich komme…«
***
Detlev Menningmann kam aus Deutschland. Er war im Ruhrgebiet aufgewachsen, und schon in seiner Kindheit hatte er sich aus den Stadtbüchereien Literatur über Wales besorgt.
Dieses Land reizte und faszinierte ihn. Auch später, als Jugendlicher, ließ ihn Wales nicht los, und er war sicher, daß er sich irgendwann einmal den großen Traum erfüllen würde, um Wales einen Besuch abzustatten.
Detlev konnte man als Träumer bezeichnen. Nach seiner Schulzeit wollte er keine handwerkliche Lehre beginnen, sondern entschied sich für den Beruf des Malers und Grafikers. Vor allen Dingen hatte es ihm das Malen angetan. In der Freizeit hockte er vor seiner Staffelei und malte. Herrliche Bilder, vor allen Dingen Portraits und Landschaften. Sie zogen ihn immer wieder in ihren
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