0196 - Die Mörderklaue
genauer hin. Was hatte ein Mensch in dieser Einöde zu suchen, wenn er nicht zu den Einheimischen zählte und irgendeiner Aufgabe nachging?
Die schmale Gestalt zählte wahrlich nicht zu den Einwohnern, das konnte sich Detlef kaum vorstellen.
Es war auch kein Mann, der da über das Grasschritt, sondern eine Frau.
Selbst aus dieser Entfernung erkannte Detlev, daß es sich bei ihr um ein Mädchen handelte. Jung noch, aber kein Kind mehr.
Seltsam war auch die Kleidung dieses Mädchens. Es trug ein langes weißes Hemd, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und sehr dünn war.
Viel zu dünn für diese Kälte.
Zudem bewegte sich das Mädchen sehr seltsam. Es ging nicht wie ein normaler Mensch, sondern erinnerte an eine Puppe, die jemand aufgezogen hatte.
»Die holt sich bei dieser Kälte noch den Tod«, flüsterte Detlev Menningmann. Er wollte sie ansprechen, rufen, aus irgendeinem für ihn selbst nicht erklärbaren Grunde schreckte er davor zurück und ließ das Mädchen laufen.
Er selbst suchte sogar noch Deckung hinter den Zweigen einer sperrigen Weide. Gebannt blieb er dort hocken und beobachtete den weiteren Weg des Mädchens.
Sie mußte an seinem Versteck vorbei schreiten. Dabei schaute sie nicht nach rechts und auch nicht nach links. Detlev kam es so vor, als würde sie von einer Schnur gezogen.
Was war das nur?
Wie kam dieses junge Mädchen überhaupt in die Gegend? Und dann in der Kleidung?
Die Linie, auf der die Unbekannte Detlev passierte, lief schräg an ihm vorbei. Die Entfernung blieb allerdings nicht gleich, sie schmolz zusammen und Detlev zog sich tiefer in seine Deckung zurück, um nicht doch noch gesehen zu werden.
Da fiel ihm etwas auf.
Am Hals des Mädchen schimmerte ein roter Fleck. Er war deshalb so gut zu sehen, weil er sich in seiner Farbe von der Haut und dem weißen Gewand abhob.
Rot wie Blut..
Als Detlev sein kleines Fernglas aus der Tasche zog, es gegen die Augen preßte und genauer nachschaute, da sah er es sehr deutlich.
Ohne Zweifel, das war Blut.
Und es war aus einer Wunde gesickert, die irgendein Gegenstand in den Hals des Mädchens gerissen haben mußte. Aus der Wunde rann noch ein roter Streifen und versickerte im weißen Hemd der einsamen Wanderin.
Wie eine Tote, dachte Detlev. Himmel, sie sieht wie eine Tote aus. Er erinnerte sich an eine ehemalige Kollegin, die sehr jung noch gestorben war.
Hatte sie als Tote nicht ähnlich ausgesehen?
Über den Rücken des Malers rann ein Schauer, und Detlev Menningmann drückte sich selbst die Daumen, daß die Unbekannte ihn nicht sah.
Nein, sie schritt vorbei.
Hölzern, monoton - aber zielstrebig.
Der junge Maler schaute ihr so lange nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann erst traute er sich aus seinem Versteck. Er blickte in die andere Richtung. Woher war dieses Mädchen gekommen? Sie konnte doch nicht aus der Luft erschienen sein?
Er nahm auch den Feldstecher zu Hilfe und sah einen großen, dunklen Gegenstand. Er lag da und bewegte sich nicht.
Den Umrissen nach zu urteilen, könnte es ein Fahrzeug sein, dachte Detlev. Wenn dies zutraf, war das Mädchen vielleicht aus diesem Fahrzeug gekommen. Wie es schien, befand sich der Wagen auch nicht mehr auf der Straße, sondern lag auf freiem Feld, neben der Fahrbahn.
Dann war es doch ein Unfall.
Detlev Menningmann gehörte nicht zu den Menschen, die wegrannten, wenn irgendwo etwas geschehen war. Er wollte helfen, und so schnell er konnte setzte er sich in Bewegung. Es dauerte trotzdem seine Zeit, bis er den Wagen deutlicher sah.
Der war tatsächlich von der Fahrbahn abgekommen und hatte sich mit der Schnauze in einen Erdwall gebohrt. Soviel Detlev erkennen konnte, regte sich bei dem Fahrzeug nichts. Der Maler schritt weiter, ohne dabei sein Ziel aus den Augen zu lassen. Er schaute auch nicht nach unten auf seine Füße, und deshalb stolperte er über den Toten.
Fast wäre Detlev noch selbst gefallen, konnte sich fangen, sprang über die Leiche hinweg, blieb stehen und drehte sich um.
Das Entsetzen ließ sein Blut fast zu Eis werden.
Vor ihm lag ein Mann. Das konnte Detlev gerade noch erkennen.
Ansonsten war dieser Körper schlimmer zugerichtet als mancher Verkehrstote, den er gesehen hatte. Wer das getan hatte, wußte er nicht, aber es sah aus, als hätten sich Geier über den Toten gestürzt, wie er es mal in einem Kulturfilm aus Südamerika gesehen hatte.
Geier gab es hier nicht.
Dafür Krähen und Raben.
Detlev Menningmann zog instinktiv die richtigen Schlüsse.
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