02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Mommy«, sagte John. »Wann kommst du?«
»Ich komme ganz schnell«, sagte Christy, die sich bemühte, ihre Panik zu verbergen. »Paß auf deinen kleinen Bruder auf, bis ich da bin.«
Nun, da sie die Wahrheit kannte, war sie wie gelähmt. Riaz hatte seine Pläne erstaunlich gut vor ihr geheimgehalten. Während seiner heftigen Wutanfälle hatte er nie damit gedroht, die Kinder zu entführen, obwohl er wußte, daß er sie damit am meisten verletzen würde. Seine kalte Berechnung machte die Tat noch entsetzlicher.
Christy wählte die Nummer der Familie ihres Mannes in Peshawar und erreichte Tarik, Riaz' älteren Bruder, der ihr erzählte, Riaz habe darum gebeten, ihn am Bahnhof abzuholen. »Aber er hat mir nicht gesagt, daß er die Kinder bei sich hat«, meinte Tarik. »Wo bist du? Warum bist du nicht mitgekommen ?«
»Ich bin krank und schwanger«, antwortete Christy mit zitternder Stimme, »und ich glaube nicht, daß die Schwangerschaft gutgeht.«
»Der dumme Riaz, so ein dummer Kerl«, murmelte Tarik. »Keine Angst, Christy, keine Angst.«
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Christy wußte, daß sie erst dann keine Angst mehr haben würde, wenn sie ihre Kinder in den Armen hielt. Sie ließ sich beurlauben, buchte den nächsten Flug nach Karatschi und blieb über Nacht in einer Klinik. Geschwächt und ohne Schlaf konnte sie sich leicht eine Bronchitis oder vielleicht sogar eine Lungenentzündung holen. Der gebuchte Flug wurde wegen schlechten Wetters gestrichen, und Christy mußte mehrere Tage warten, bis sie einen Platz in einer anderen Maschine bekam; die Flüge waren völlig von Urlaubern ausgebucht. Inzwischen stellte Christy fest, daß Riaz die von ihr gesparten 2000 Dollar mitgenommen und das gemeinsame Girokonto um 10000 Dollar überzogen hatte. Später erfuhr sie, daß er in ihrem Namen über ein Dutzend Kreditkarten beantragt hatte, von American Express bis Sears, und bei allen Firmen tief in der Kreide stand.
Am 6. Januar 1989 bestieg sie schließlich das Flugzeug. Der Flug dauerte 26 Stunden, mit Zwischenlandungen in Frankfurt und Istanbul, und Christy mußte fast andauernd husten. Als sie um ein Uhr morgens in der feuchten und kühlen pakistanischen Hauptstadt Islamabad eintraf, fühlte sie sich miserabel. Nachdem sie den Zoll passiert hatte, ging der Schwächeanfall vorüber. Dort stand Riaz, trotzig und ungehalten; er hatte sich schon immer über ihre Krankheiten und die Unannehmlichkeiten geärgert, die sie ihm bereiteten. Und dort waren unverkennbar ihre schlafenden Kinder. Riaz' Schwester Ambreen legte Adam in Christys Arme. Eine Cousine hatte John auf dem Arm. Christy konnte sich zum erstenmal seit zehn Tagen wieder entspannen.
Bei der Anmeldung in einem Hotel in Islamabad, wo sie die Nacht über bleiben wollten, ehe sie am nächsten Tag weiter nach Peshawar fuhren, sah sich Christy ihre Söhne genauer an und erschrak. Nach nur knapp zwei Wochen waren sie bereits völlig verwahrlost. Adams Stoffwindel war durch und durch naß. Als Christy ihn auf ihr Bett legte, um
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die Windel zu wechseln, entdeckte sie zu ihrem Entsetzen große Wundblasen an seinem Po. Sie rieb das Kind mit Salbe ein, und es schrie vor Schmerz.
Während Christy Adam auf einem Stuhl in den Schlaf wiegte, lag John mager und blaß neben ihr auf dem Bett.
Sie gab ihm einen Stups, und langsam öffnete er seine großen braunen Augen. Vor zehn Tagen waren diese Augen noch strahlend und lebendig gewesen; jetzt waren sie so matt und glanzlos wie alte Kupfermünzen.
Als er seine Mutter erkannte, starrte er sie an wie einen Geist. »Mommy, ich habe dir gesagt, du sollst zu mir kommen, aber du bist nicht gekommen«, flüsterte er. Er schloß erneut die Augen, war aber nach ein paar Minuten wieder wach, kletterte aus dem Bett und legte den Kopf in Christys Schoß.
Da bemerkte Christy die winzigen Nadelstiche an Johns Händen und Füßen, die verräterischen Blutergüsse intravenöser Infusionen. »Sie wollten ihn das Wasser dort nicht trinken lassen, weil er nicht daran gewöhnt war«, erzählte sie. »Und er wollte ihre Milch nicht trinken - richtig fette, dicke Büffelmilch, die ganz anders schmeckt als unsere Milch. Keiner dachte daran, ihm Saft zu geben, und er war völlig ausgetrocknet. Mein Mann wußte nicht, was er tun sollte, deshalb brachte er ihn ins Krankenhaus, wo ihm an Händen und Füßen ein Tropf angelegt wurde.«
Christy holte zwei von Johns Lieblingsspielsachen hervor, ein Gummikrokodil und einen Stoffbären. Seit Riaz John mitgenommen
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