02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
dem Haus steht ein 181
Apfelbaum. Früher haben seine drei Töchter die Äpfel gepflückt, und seine Frau hat damit Kuchen gebacken.
Als ich Ramez im Juni, Monate vor der Apfelernte, besuchte, trug der Baum eine ganz andere, bittere Frucht. An seinem Stamm waren vier gelbe Schleifen befestigt, und unterhalb der Schleifen hatte Ramez ein gelbes Band um den Stamm geschlungen, auf dem in schwarzer Schrift stand: »11. August 1986« - das Datum, an dem Muriel die Mädchen mit nach Südafrika genommen hatte, wo sie heute noch sind -und »Betet für ihre sichere Heimkehr«. Alle sechs Monate, wenn die Aufschrift verblaßt ist, ersetzt Ramez das Band durch ein neues. Die Botschaft bleibt immer dieselbe.
In der Wohnung ist die Zeit seit dem Tag der Abreise vor mehr als fünf Jahren stehengeblieben. Eine Wand im Wohnzimmer hängt voller Familienerinnerungen: Porträts von Muriel und den Töchtern, mit gelben Schleifen an der rechten oberen Ecke; ein Hochzeitsfoto von Ramez und Muriel in Schottland: er steif und stolz in seinem grauen Anzug mit Weste, sie mit scheuem Lächeln, blonder Ponyfrisur und vollen Wangen, die weiße Schleppe kunstvoll auf dem Steinboden einer Veranda drapiert; eine Zeichnung mit Buntstiften von einer Krawatte - ein Geschenk seiner ältesten Tochter Vicky zum Vatertag; ein Schnappschuß von Maya, der mittleren Tochter, mit einem Golfschläger aus Plastik für Kinder; und über dem Fernseher eine Großaufnahme von Monica, der Jüngsten, die den Betrachter mit großen Augen ansieht. Ramez hat einmal mit dem Gedanken gespielt, Fotograf zu werden. Die Fotos sind scharf, die Bildausschnitte gut gewählt.
An der Wand daneben hängt ein von Ramez gerahmter Aufsatz Vickys aus der ersten Klasse, ordentlich mit Bleistift zwischen die waagrechten Linien des Papiers geschrieben. Über den Titel des Aufsatzes - »Meine Blume« - hat Vicky ein Bild gemalt: ein lachendes Mädchen mit weit ausgebreiteten Armen. Die rechte Hand deutet auf eine Schaukel; eine ähnliche Schaukel hatte Ramez kurz zuvor im Garten aufgestellt. Die linke Hand zeigt auf eine Palme; Palmen kannte Vicky von Besuchen in Ramez' Heimat, dem Libanon.
»Eines Tages ging ich nach draußen zum Spielen«, beginnt die Geschichte. »Da sah ich meine Blume, die so schön neben einem Baum wuchs. Dann kam ein Hund angelaufen. Er trat auf die Blume, und das war ihr Ende.«
»Sie hat diese Geschichte wenige Monate vor ihrer Abreise geschrieben«, sagte Ramez bedeutungsvoll. »Sie nimmt die Reise nach Südafrika vorweg.«
Er dachte ständig über seine Familie und seine drei ungleichen Töchter nach, die er über alles liebte. Die damals siebenjährige Vicky war »sanft und rücksichtsvoll wie eine alte Dame«, erzählte Ramez, und bei dem Gedanken an sie bekam seine Stimme einen warmen Ton. »Sie bringt nicht gern einen anderen Menschen in Verlegenheit, und sie mag einem nicht sagen, daß man unrecht hat. Eines Tages, als Vicky ungefähr drei Jahre alt war, wollten wir in die Kirche gehen, aber wir waren zu spät dran, der Gottesdienst war schon zu Ende. Ich wollte sie nicht enttäuschen, deshalb gingen wir trotzdem hinein. Wir saßen in der Kirche, und sie sah, daß sie leer war. Sie schaute mich an und meinte: >Daddy, ich glaube, Jesus arbeitet heute nicht !< Sie hat sehr viel Phantasie.«
Die fünfjährige Maya mit ihren rötlich-blonden Locken sah ihrem Vater am ähnlichsten - »mein Ebenbild«, sagte Ramez stolz und zeigte mir ein Foto aus seiner Kindheit. Maya war direkt und kräftig und zäh, ein Mädchen, das es mit den Jungs aus der Nachbarschaft aufnehmen konnte. »Sie ist sehr sensibel, emotional und liebevoll. Als ich meine Töchter besuchte, setzte Victoria sich mir auf den Schoß und erzählte mir stundenlang alles, was inzwischen passiert
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war. Wenn Maya auf meinem Schoß saß, starrte sie mich nur an, als ob sie stumm mit ihren Blicken redete.«
Monica, damals noch nicht ganz drei Jahre alt, war »eine Mischung aus beiden«, altklug und bestimmt. »Man kann sie zu einer Gruppe von Erwachsenen setzen, und sie redet, als gehöre sie dazu«, meinte Ramez. »Wenn sie etwas haben möchte, sagt sie es ganz laut, um sicherzugehen, daß man sie auch hört. Da sie die Jüngste ist, muß sie vermutlich lauter reden. Wenn sie bekommen hat, was sie will, ist sie sofort ruhig und zufrieden und sitzt fröhlich und gelassen da.«
Und dann fuhr er traurig fort: »Ich komme mir vor wie auf einem Schlachtfeld, wo einem die Kugeln um die Ohren
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