02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
kaltem Wasser und breiteten Matratzen für die Kinder aus«, erzählte Mariann.
»Es gab im gesamten Wohnblock etwa 150 Kinder; die kleinsten hatten schreckliche Angst und heulten, da es stockdunkel war. Es war furchtbar.«
Der Krieg hatte noch eine andere städtische Dienstleistung zum Erliegen gebracht: die Ableitung der Abwässer aus den Reservoirs unter den Toiletten. Die Abwässer flössen auf die Straßen und überfluteten sie. Fußgänger mußten um den ekelerregenden grünen Strom einen großen Bogen machen.
Mariann fühlte sich drückend einsam. Ihre Kollegen vom VO W waren alle in Bagdad. Die Post war meistens unzuverlässig, und das Telefonnetz war beschädigt. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Angehörigen in den USA zu erreichen. Die Fernsehnachrichten wurden natürlich auf arabisch gesendet. »Ich litt sehr unter dem Rückzug der CNN«, meinte Mariann. Das einzig Interessante im Radio war Frank Sina-tras in regelmäßigen Abständen gesendetes My Way in verschiedenen Arrangements, Saddam Husseins Lieblingslied. Da es auch keine westlichen Zeitungen gab, konnte Mariann die Gerüchte nicht einschätzen, die besagten, daß der Krieg vielleicht wieder anfangen werde.
Khalids Arbeitswut half auch nicht weiter. Er arbeitete genauso besessen wie damals in den Staaten am College-254
um acht fuhr er in seinen Laden, machte während der unvermeidlichen mittäglichen Stromausfälle eine zweistündige pause und arbeitete weiter bis halb elf Uhr in der Nacht. Wenn er dann nach Hause kam, war er müde, gereizt und verschlossen wie immer. Er arbeitete sieben Tage in der Woche; er war genausowenig religiös wie in den Staaten und beachtete die moslemischen Feiertage nicht.
Das Familienleben erinnerte Mariann in beklemmender Weise an das Leben in den USA, das sie so sehr gehaßt hatte.
An ihrem dritten Tag in Mosul wollte Khalid zum Mittagessen Lebensmittel mitbringen. Der Nachmittag verging, doch von Khalid keine Spur. Im ganzen Haus gab es nur tiefgefrorenes Pitabrot und Weinblätter, welche die Kinder nicht essen wollten. Mariann wußte, daß Khalid nie kochte und die Kinder gewöhnlich bei Sageta, Khalids Schwägerin, aßen. Sie wußte jedoch nicht, wo Sageta wohnte, und war überdies davor gewarnt worden, allein auf die Straße zu gehen. Infolge des Krieges gab es mehr Kriminalität, und obwohl Frauen im Irak keinen Tschador zu tragen brauchen, wäre Marianns westliche Kleidung zu auffällig gewesen. Sie hatte bisher nur eine einzige Frau in Hosen gesehen.
»Wir lagen auf dem Bett«, sagte Mariann, »und hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Die Kinder weinten, ich weinte, und irgendwann schliefen wir ein.« Als Mariann Khalid spätabends zur Rede stellte, entschuldigte er sich und versprach, das Problem zu lösen. Er brachte zwar nie Lebensmittelvorräte nach Hause, aber seine zehn-bis fünfzehnköpfige Verwandtschaft kam nun jeden Tag zu Besuch, von frühmorgens bis Mitternacht. Es gab immer noch keine regelmäßigen Mahlzeiten und praktisch keine Planung, und aufgrund der Rationierung gingen gegen Monatsende Reis und Mehl aus. Aber wenigstens weinten Adam und Adora jetzt nicht mehr vor Hunger.
Für Mariann war die Aufmerksamkeit der Familie jedoch
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zuviel des Guten. Im Umkreis von acht Kilometern wohnten 200 Verwandte, und sie war mit Khalid kaum eine Minute allein. »Wir brauchen auch einmal Zeit für unser Familienleben, damit wir uns wieder näherkommen«, klagte sie.
»Ich lade sie ja nicht ein«, entgegnete Khalid, »aber man kann sie nicht einfach abweisen, das wäre unhöflich.«
Eine Ausnahme war Sageta, die stets höflich war und nur eine Stunde blieb. Sie war auch die einzige aus der Verwandtschaft, die Englisch sprach. Sageta sah sich Marianns Familienbilder aus Michigan an und versuchte sie aufzumuntern. »Du vermißt deine Familie«, sagte sie, »aber jetzt bin ich deine Schwester.«
Doch selbst diese Beziehung war nicht ohne Probleme. Sageta hatte sich praktisch als einzige um die Kinder gekümmert, wenn Khalid arbeitete. Adam hatte seine Mutter nie vergessen, doch Adora war noch sehr jung und nannte Sageta immer »Mama«.
Mariann erzählte: »Als ich ankam, sagte Sageta zu mir: >Adora hat eine Mama im Irak und eine Mama in Amerika/ Darauf erwiderte ich: >Nein, das stimmt nicht. Für mich hat sie nur eine Mama, und zwar nicht hier.< Doch Adora hatte Sageta wirklich sehr gern, weil diese sie wie eine Tochter behandelte, was Adora ja auch zugute kam. Aber mich verletzte das
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