02 - Der 'Mann in Weiß'
gelang ihm nur unvollkommen.
Staub wirbelte auf. Alles Körpergewebe war längst zerfallen. Tom blickte auf einen Haufen blanker Knochen. Sogar der Brustkorb war in sich zusammengesunken… Nein, nicht ganz. Der Archäologe kniff die Augen zusammen und leuchtete das Skelett besser aus. Die Rippen und das Brustbein waren glatt abgetrennt. Von der rechten Schulter des Toten aus zog sich ein absolut gerader Schnitt schräg nach links unten.
Ein Machetenhieb, so wie bei Müller? Nicht ganz. Die Vorstellung passte zwar zu dem zerschnittenen Stoff, keineswegs jedoch zu den absolut glatt durchschnittenen Rippen.
Prüfend fuhr Tom mit den Fingern über die Knochen hinweg. Da war kein noch so winziges Eck abgesplittert oder gar rau, die Schnittstellen wirkten so glatt wie Teflon.
»Mit einer normalen Machete nicht zu machen«, murmelte Tom. »Womit hat dich dein Mörder umgebracht, Maier?«
Das Echo der eigenen Stimme, das dumpf und hohl im Gang nachhallte, verursachte ein flaues Gefühl in seinen Magen. Vor allem deswegen, weil er in diesem Moment an Pauahtun denken musste ‒ so hatte Branson jenen Indio mit den abgeschnittenen Ohrläppchen genannt, der zu seinen Killern gehörte.
Dieser Pauahtun hatte ein seltsames Messer für den Mord benutzt, das Eisen wie Butter geschnitten hatte. Tom hatte den Eindruck gehabt, die Klinge sei leicht unscharf gewesen.
Pauahtun. Das war aber wohl nicht der richtige Name des groß gewachsenen Indios mit dem Glatzkopf, denn so hieß der Sturm- und Donnergott in der Maya-Mythologie.
Tom ließ den Lichtkegel der Lampe durch den Gang huschen, als erwarte er, den Mörder im nächsten Moment um die Ecke kommen zu sehen. Aber da war nichts. Auch nichts, was nur entfernt wie eine Waffe ausgesehen hätte. Rasiermesserscharf musste sie sein und die Präzision eines hochmodernen Laserschneiders besitzen. Pauahtuns Messer schien diese Eigenschaften zu haben.
Vorsichtig stieg Tom über die Knochen hinweg. Vor ihm tauchte ein weiterer Durchgang auf. Die Wand darum herum war von oben bis unten dicht mit Zeichen bemalt. Tom stieß zuerst mit der Machete in den Raum dahinter. Als nichts passierte, trat er ein.
In der Mitte des gemauerten Raums lag der fehlende Schädel. Bleich leuchtete er im Lampenlicht. Ein lückenhaftes Gebiss in einem verzerrt aufgerissenen Mund schien Tom anzugrinsen. Ihn schauderte. Und noch mehr, als plötzlich eine Ratte aus der leeren Augenhöhle schlüpfte und leise fiepend in einem Loch an der unteren Wandleiste verschwand.
Tom ging erneut in die Knie. Er drehte den Schädel auf die Seite und fuhr mit der Fingerkuppe über den abgetrennten Halswirbel. Auch hier fand er wieder diesen sauberen, chirurgisch feinen Schnitt. Und dann noch drei-, viermal am Schädel. Die linke Augenhöhle war ebenfalls angeschnitten.
Sieht so aus, als hätten sie dir das Auge ausgestochen, Maier. Ich hoffe, du hast nicht zu sehr leiden müssen…
Tom glaubte nicht wirklich daran. Vor allem auch im Gedenken an Bransons grausamen Tod unter einem Hagel von Machetenhieben.
Ansonsten war die Grabkammer völlig leer ‒ bis auf eine abgebrochene Messerklinge, einen Zwölferpack Corona-Bierdosen, von denen zwei leer und zerquetscht waren.
An den Wänden hatte jemand wild herumgehackt und herumgekratzt, vor allem in den Fugen. Eine kleine Wandnische war geöffnet worden.
Als ob man noch weitere Räume gesucht hätte. Aber wer ist »man«? Maier ‒ oder sein Mörder?
Tom versuchte die hier ebenfalls flächendeckend angebrachten Zeichen zu deuten, aber er erkannte ihren Sinn nicht. Zumal er hier ebenfalls welche fand, die er definitiv noch nicht kannte. Immerhin blieb er dabei, dass es sich um eine Grabkammer gehandelt hatte. Möglicherweise gehört sie zu den Ruinen von Cadral.
Auffällig, weil etwas größer als die anderen Zeichen, war das des Sturmund Feuergottes Huracan , der Blitze auf Menschen schleuderte und sie zerschmetterte. Genau das gleiche Zeichen hatte es in den Vorkammern der Branson-Anlage gegeben; Tom erinnerte sich noch gut daran.
Nach vergeblicher Suche trat er den Rückzug an. Nun war er wirklich enttäuscht, denn irgendwie hatte er etwas Großartiges an dem Ort erwartet, den er so mühsam mit Hilfe der Wandkarte und der Stele lokalisiert hatte, und kein profanes Grab. Möglicherweise hatte es dieses Großartige tatsächlich gegeben. Wenn ja, war es nun weg, für alle Zeiten verloren.
Tom verließ die Ruine und schlug sich durch den Dschungel zurück in die
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