02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
Zeit, mich zu unterrichten, also besuchte ich anfangs die Schule in Jeba, einem Ort mit etwa 2 000 Einwohnern. Der Fußmarsch ins Dorf, vorausgesetzt ich nahm die Abkürzung über die Felder, dauerte eine Stunde. Was mit meinem Bein nicht gerade angenehm war. Der Weg über die unasphaltierte Straße war zwar sicherer, weil Schlangen besser zu erkennen waren, nahm aber gut drei Stunden in Anspruch.
Also entschied ich mich für den Querfeldeinmarsch. Bis eines Tages eine Schlange vor meinen Füßen lag. Mama Funke erklärte mir zwar, dass es sich um ein harmloses Exemplar handelte, und wollte mich in „Schlangenkunde“
unterweisen. Doch zum einen verstand ich die zahnlose Mama Funke und ihre ungewohnte Sprache sehr schlecht, zum anderen gibt es rund ein Dutzend verschiedene Sorten, die sich teilweise recht ähnlich sind.
Doch das waren nicht die einzigen Probleme, die mir die Schulzeit verleideten.
Wenn beispielsweise Erntezeit war, wurden alle Hände gebraucht und so saß ich oft allein im Klassenraum der Schule von Jeba. Und dafür hatte ich einen dreistündigen Marsch hinter mich gebracht, der mir am Nachmittag noch einmal bevorstand. Ich gebe zu, anfangs erschienen mir einige dieser Widrigkeiten des Landlebens alles andere als verlockend! Um dem langen Weg und dem Frust über den Ausfall zu entgehen, blieb ich bald ganz zu Hause.
Mama Bisi wusste immer viele Lieder und Reime, um mich aufzumuntern oder mir zu beweisen, dass ich mich im Irrtum befand. Damals weckte sie mich morgens oft mit diesem Kinderlied: „Da steht ein Bulle im Gras und frisst und frisst nur was. Denn er will nicht ziehen den Karren zur Stadt, lieber wird er dick und satt. Doch wenn der Bulle ihn zöge, dann würde er kräftig und stark.“
Dann gab Mama Bisi mir einen Kuss und sagte: „Also, lerne und werde stark wie deine Mutter.“
Ich wollte durchaus lernen. Aber eben so wie früher, im Harem. Dass meine beiden Lieblingsschwestern jedes Interesse am Unterricht verloren hatten, war mir rätselhaft. Im Gegensatz zu ihnen bestand ich auf meinem Recht - so empfand ich es zumindest. Schließlich schrieb Mutter meinem Vater einen Brief, in dem sie um eine Lehrerin bat. Wochen vergingen und nichts geschah.
Dann hielt eines Abends eines von Vaters großen Autos vor dem Haus. Papa David war persönlich gekommen, um mir einen Lehrer zu bringen! Er hatte die Jahreszeit für sein Kommen klug gewählt. Auf den Feldern war jetzt nicht viel zu tun. Aus dem Norden blies der Harmattan ständig den Sand der Sahara über das Land.
Vater wollte vor allem auch seine Frauen sehen und ihnen beweisen, dass er sie weiterhin liebte. Auch mit Mutter verbrachte er sehr viel Zeit und ich stellte fest, dass sie in den zwei Wochen seines Aufenthalts selbst mich ganz anders behandelte. Sie war irgendwie liebevoller, weicher. Im Harem war mir dieser Einfluss meines Vaters auf Mutter nie aufgefallen, vielleicht, weil immer so viele Menschen um uns herum waren und ich deshalb keinen so engen Kontakt zu ihr hatte.
Der Lehrer, den Papa David ausgesucht hatte, hieß Okereke. Er unterrichtete Efe, mich und die Enkel von Mama Funke
und Mama Ngozi sowie eine Hand voll weiterer Kinder, die im Umkreis der nächsten zwei Kilometer wohnten. Jem arbeitete lieber weiter auf dem Feld und war mit keinem Mittel zur Teilnahme am Unterricht zu bewegen. Okereke war uralt, sehr mager und hatte einen Buckel. Er hatte ein abwechslungsreiches Leben geführt, von dem er mir abends auf der breiten Veranda unseres Hauses, wo übrigens auch der Schulunterricht stattfand, lange erzählte.
Von Okereke erfuhr ich eigentlich alles über die Geschichte meines Landes, er lieh mir sogar seine Bücher. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Außerdem war er das erste männliche Wesen, das mir seine Zeit schenkte. Papa David hatte ich ja eigentlich nur als würdevolles Oberhaupt der Familie erlebt, aber nicht als Vater. Und einen Großvater hatte ich nie. Okereke war alles zusammen: Ersatzpapa und -opa, Lehrer und Geschichtenerzähler.
Als Übersetzer für den englischen Gouverneur hatte er lange Jahre gearbeitet, sich aber irgendwann für die Unabhängigkeit Nigerias eingesetzt und war zwischen die Fronten geraten. Er öffnete mir die Augen, wie leicht das in meinem Land geschehen kann. Okereke bewunderte meinen Vater und die Art, wie er den Mitgliedern seiner Familie half, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen.
Deshalb lebte der alte Mann bei uns; seine „Bezahlung“ bestand aus Essen und einem
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