02_In einem anderen Buch
un-sapiens.
GERHARD VON SQUID
– Neandertaler. Rückkehr nach kurzer Abwesenheit
Zufälle sind etwas Merkwürdiges. Ich mag besonders die Geschichte mit dem Pokerspieler namens Fallon, der 1858 in San
Francisco erschossen wurde, weil er falsch gespielt hatte. Das
Geld des Toten aufzuteilen bringt Unglück, dachte man damals,
und so drückte man die $ 600 in der Hoffnung, sie alsbald
zurückzugewinnen, einem jungen Mann in die Hand, der
gerade vorbeikam. Aber der Fremde machte aus den $ 600 sehr
bald $ 2200, und als die Polizei kam, forderte man ihn auf, die
ursprünglichen $ 600 wieder herauszurücken, damit man sie
den Hinterbliebenen des toten Spielers geben könne. Nach einer
kurzen Untersuchung allerdings musste man dem jungen Mann
das Geld zum zweiten Mal aushändigen, denn wie sich herausgestellt hatte, war der junge Mann Fallons Sohn, der seinen
Vater seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Mein Vater hat mir beigebracht, dass man Zufälle in der Regel ungestraft ignorieren kann. »Es wäre weitaus bemerkenswerter«, pflegte er immer zu sagen, »wenn es keine Zufälle
gäbe.«
Ich betrat den Waggon, zog die Notbremse und befahl allen
Reisenden, den Skyrail sofort zu verlassen. Der Fahrer, ein
Neandertaler, warf mir einen verblüfften Blick zu, als ich den
Fuß in die Tür zum Führerhaus stellte. Ich zog ihn heraus,
versetzte ihm einen Kinnhaken und legte ihm Handschellen an.
Ein paar Tage im Kittchen zum Abkühlen, dann konnte er
wieder nach Hause. Die sieben Frauen, die im Zug saßen,
schwiegen verblüfft und schockiert, als ich den Neandertaler
durchsuchte und … nichts fand. Ich überprüfte die ganze
Kabine und sogar die Frühstückstasche des Mannes, aber die
aus Seife geschnitzte Pistole war nirgends zu finden.
Die unangenehme betuchte Dame, die ehedem so wild darauf gewesen war, den Fahrer mit ihrem Schirm zu bearbeiten,
war jetzt voll gerechter Empörung: »Das ist ja abscheulich! So
über einen armen, wehrlosen Neandertaler herzufallen! Pfui,
Schande! Das werde ich meinem Mann erzählen!«
Eine der anderen Frauen hatte inzwischen SpecOps-21 geru-fen, und eine dritte tupfte dem Neandertaler mit ihrem Taschentuch den blutenden Mund ab. Ich nahm Kaylieu die
Handschellen ab und entschuldigte mich. Dann setzte ich mich
in eine Ecke, nahm den Kopf in die Hände und überlegte, was
da schiefgegangen sein könnte. Die Frauen hießen alle Irma
Cohen, da war ich ganz sicher, aber sie würden es nie erfahren.
Dad sagt, solche Sachen passieren dauernd.
»Was haben Sie gemacht?« fragte Victor.
»Ich habe einen Neandertaler geschlagen.«
»Aber warum denn?«
»Ich dachte, er hätte eine Pistole.«
»Ein Neandertaler? Mit einer Pistole? Jetzt werden Sie bitte
nicht albern!«
Ich saß in Victors Büro und – was nicht oft bei ihm vorkam –
die Tür war geschlossen. Man hatte mich verhaftet, verhört,
erkennungsdienstlich behandelt und erst wieder auf freien Fuß
gesetzt, nachdem Victor für mich gebürgt hatte. Wäre ich nicht
so verwirrt gewesen, hätte ich mich sehr über diese Behandlung
geärgert. So wie die Dinge lagen, tat mir vor allem Kaylieu leid.
Ich hatte ihm einen Zahn ausgeschlagen.
»Zugegeben«, sagte ich, »die Pistole war nur aus Seife geschnitzt – er wollte, dass ihn SO-14 erschießt. Aber das ist nur
die halbe Wahrheit. Das eigentliche Opfer war ich. Wenn ich
mit diesem Skyrail gefahren wäre, würde ich jetzt im Leichensack liegen, Victor. Jemand hat mir eine Falle gestellt. Jemand
hat die Ereignisse dergestalt manipuliert, dass ich am Ende von
einer verirrten SpecOps-Kugel erwischt worden wäre. Wahrscheinlich war das deren Vorstellung von einem Witz. Wenn
mich nicht Daddy da rausgeholt hätte, säße ich jetzt auf einem
Wölkchen und spielte die Harfe.«
Victor runzelte die Stirn, und ich zeigte ihm die Lösung des
Kreuzworträtsels in der heutigen Owl. Die drei entscheidenden
Lösungsworte hatte ich grün markiert, und er las sie laut vor:
»Streitsüchtig, Thursday, Goodbye.«
Er zuckte die Achseln. »Das bedeutet gar nichts. Reiner Zufall. Aus anderen Lösungsworten könnte ich ähnlich bedeutungsvolle Sätze herauslesen. Hier zum Beispiel.«
Er studierte die Lösung einen Moment lang.
»Sehen Sie? Planet, bald, zerstört. Was soll das heißen? Dass
die Welt untergeht?«
»Nun ja –«
Er ließ den Bericht über meine Verhaftung in seinen Ausgangskorb fallen. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben
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