02_In einem anderen Buch
im dunkel glänzenden
Holz der Paneele, was die ernste Atmosphäre der Bibliothek
noch verstärkte. In der Mitte des Raumes stand eine Reihe von
Lesetischen, und auf jedem der Tische eine Messinglampe mit
grünem Schirm. Die Bibliothek erschien endlos, in beiden
Richtungen versank der Raum in Dunkelheit ohne erkennbare
Grenzen. Aber das war nicht weiter wichtig. Eine Beschreibung
einer Bibliothek, das ist, als ob man ein Gemälde von Turner
betrachtet und anfängt, über den Rahmen zu reden. An allen
Wänden standen Bücher, Reihe an Reihe, Regal an Regal.
Hunderte, Tausende, Millionen von Büchern. Gebundene
Bücher, Taschenbücher, Lederfolianten, unkorrigierte Leseexemplare, handgeschriebene Manuskripte, ganz einfach alles. Ich
trat näher heran und berührte mit den Fingerspitzen die Buchrücken. Sie fühlten sich warm an, und so beugte ich mich vor
und legte mein Ohr an die Bücher. Ich hörte ein entferntes
Summen, das Dröhnen von Maschinen, das Reden von Menschen und Straßenverkehr, Möwengekreisch, Gelächter und
tosende Wellen, den Wind in den Zweigen, entfernten Donner
und schweren Regen, einen Schmiedehammer und spielende
Kinder – Millionen von Geräuschen, die alle gleichzeitig stattfanden. Die Wolken wichen von meinem Gemüt und in einem
Augenblick der Erleuchtung begriff ich die Natur der Bücher.
Sie waren nicht nur eine Fülle von säuberlich auf den Seiten
versammelten Wörtern, die den Eindruck von Wirklichkeit
vermitteln – jeder dieser Bände war tatsächlich Realität. Die
Bücher, die ich zu Haus hatte, glichen den hier versammelten
Büchern allenfalls so, wie Fotografien den Gegenständen gleichen, die man fotografiert hat. Die Bücher hier waren lebendig!
Langsam ging ich an den Regalen entlang, ließ meine Finger
über die Buchrücken gleiten und lauschte dem sanften Rhythmus, der dabei entstand. Ab und zu begegnete ich einem vertrauten Titel. Nach einigen hundert Metern kam ich an eine
Kreuzung, wo ein zweiter Raum den ersten kreuzte. In der
Mitte der Kreuzung befand sich ein großes Loch; eine eiserne
Wendeltreppe führte hinunter. Vorsichtig spähte ich in die
Tiefe. Kaum zehn Meter unter mir erspähte ich ein weiteres
Stockwerk, das dem ersten vollkommen glich. Und mitten in
diesem unteren Stockwerk erblickte ich ein weiteres kreisrundes
Loch, durch das ich wieder ein weiteres Stockwerk erblickte.
Und das ging weiter und weiter, bis in die unermessliche Tiefe
der Bibliothek. Dann sah ich nach oben, und dort war es das
Gleiche: Der Lichtschacht führte in schwindelnde, von immer
neuen Zwischenstockwerken unterbrochene Höhen hinauf. Ich
lehnte mich an das Geländer und sah mich in der Bücherwelt
um.
»Tja«, sagte ich zu niemand Bestimmtem. »In Osaka bin ich
wohl nicht mehr.«
16.
Das Gespräch mit dem Kater
Die Cheshire Cat war die erste Gestalt, die mir in der Jurisfiktion begegnete, und ihr gelegentliches Auftauchen während meines Aufenthalts war stets unterhaltsam. Sie wird
auch als Grinsekatze bezeichnet, aber das ist nicht ganz zutreffend; denn erstens grinst sie keineswegs immer und
zweitens ist sie ein Kater. Er gab mir viele Ratschläge. Manche waren gut, manche schlecht und manche so unsinnig,
dass sie mich noch heute verwirren, wenn ich daran denke.
Bei alledem habe ich nie erfahren, wie alt er war, wo er herkam oder wohin er immer wieder verschwand. Er war eines
der vielen Geheimnisse in der Jurisfiktion.
THURSDAY NEXT
– Geheimnisse der Jurisfiktion
»Eine Besucherin!« rief hinter mir eine Stimme. »Was für eine
reizende Überraschung!«
Ich drehte mich um und sah zu meiner Überraschung einen
großen getigerten Kater, der auf dem obersten Bücherregal saß.
Er starrte mich mit einer eigenartigen Mischung von Wahnsinn
und Wohlwollen an und schien ganz unbeweglich, nur seine
Schwanzspitze zuckte gelegentlich hin und her. Ich war nie
zuvor einem sprechenden Kater begegnet, aber gute Manieren
kosten ja nichts, wie mein Vater zu sagen pflegt.
»Guten Abend, Herr Kater.«
Die Augen des Katers öffneten sich, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er sah den Gang hinauf und
hinunter und fragte dann: »Meinen Sie mich?«
Ich unterdrückte ein Lachen. »Sonst sehe ich niemanden.«
»Ah!« sagte der Kater und grinste erneut. »Das liegt daran,
dass Sie an zeitweiliger Katzenblindheit leiden.«
»Davon habe ich noch nie gehört.«
»Sie ist sogar ziemlich häufig«, sagte er leichthin und leckte
sich
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