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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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von Verehrern überbracht wurden. Jetzt allerdings waren keine Blumen da, deren Duft die Gerüche übertönt hätte, die jeder Bühnengarderobe, die sie je gekannt hatte, eigen waren; ein Gemisch aus Abschminkcreme, Kampfer und Gesichtswasser. Joanna nahm diesen Geruch nur unbewußt wahr, während sie mit scharfem Blick ihr Spiegelbild betrachtete und sich zwang, jedes Vorzeichen des Alters zu registrieren: die ersten schwachen Spuren, die sich von der Nase zum Kinn zogen; die feinen Fältchen rund um die Augen; die ersten angedeuteten Ringe am Hals.
    Sie lächelte mit ein wenig bitterer Ironie bei dem Gedanken, daß sie dem ganzen psychologischen Sumpf, der einmal ihr Leben ausgemacht hatte und der auch ihre Zukunft hätte bestimmen können, entronnen war: dem heruntergekommenen kleinen Reihenhaus ihrer Eltern in einer Sozialsiedlun!Nottinghams; dem Anblick ihres Vaters, wie er Tag für Tag unrasiert und mit finsterer Miene am Fenster gesessen hatte, ein arbeitsloser Maschinist, der alle Hoffnung begraben hatte; dem ewigen Gejammere ihrer Mutter über die Kälte, die ständig durch die Ritzen der schlecht isolierten Fenster drang, und über den alten Schwarzweißfernseher, an dem alle Armaturen abgebrochen waren, so daß der Ton immer mit der gleichen ohrenbetäubenden Lautstärke durch das Haus dröhnte; dem Leben, das ihre Schwestern gewählt hatten und das nichts weiter war als eine Wiederholung der Geschichte ihrer Eltern, eine trostlose Existenz mit einem Stall voll Kinder, ohne Freude und ohne Hoffnung. Ja, all dem war sie entronnen. Aber dem Prozeß langsamen Verfalls, der auf jeden Menschen wartet, konnte sie nicht entrinnen.
    Eine Zeitlang hatte sie sich eingebildet, sie würde vom Alter verschont bleiben. Ja, sie hatte fest daran geglaubt. Weil David sie in diesem Glauben unterstützt hatte.
    David war für sie nicht nur der Retter aus Armut und Kleineleuteelend gewesen. Er war die einzige zuverlässige Konstante in einer unberechenbaren Welt gewesen, in der der Ruhm von einem Tag auf den anderen wie eine Seifenblase platzen, in der der Aufstieg eines neuen Talents den Sturz einer anerkannten Schauspielerin bedeuten konnte, die ihr Leben der Bühne geweiht hatte. David kannte sie gut, wußte, wie groß ihre Angst davor war, und hatte mit unerschütterlicher Loyalität und Liebe - trotz ihrer Wutanfälle, ihrer Ansprüche, ihrer Flirts - ihre Ängste beruhigt und gelindert. Bis zu dem Tag, an dem sie den Vertrag mit Stinhurst für Joy Sinclairs neues Stück unterschrieben und sich zwischen ihr und David mit einem Schlag alles unwiderruflich geändert hatte.
    Während Joanna ihr Spiegelbild anstarrte, ohne es eigentlich zu sehen, stieg wieder Zorn in ihr auf: Es war nicht mehr der heiße Brand, der sie am Wochenende in Westerbrae zu Wut und Rachsucht getrieben hatte. Das Feuer war zur glimmenden Glut heruntergebrannt, die sich jedoch bei der kleinsten Provokation von neuem entflammen konnte.
    David hatte sie verraten. Sie zwang sich, diesen Gedanken wieder und wieder zu denken, um sich nicht von Erinnerungen an Jahrzehnte des Vertrauens und der Intimität dazu verleiten zu lassen, ihm zu vergeben. Nein, vergeben würde sie ihm niemals.
    Er hatte gewußt, daß sie nach dem Othello nie wieder mit Robert Gabriel zusammen auf der Bühne hatte stehen wollen. Er hatte gewußt, wie widerwärtig ihr Gabriels Nachstellungen waren, seine Aufdringlichkeiten, seine zweideutigen Bemerkungen, seine dauernden Anspielungen auf seine Potenz.
    »Ja, aber ob es dir nun paßt oder nicht, Gabriel und du, ihr habt gemeinsam auf der Bühne eine Ausstrahlung, die alle vom Hocker reißt«, hatte David gesagt.
    Nicht im mindesten eifersüchtig, nicht im mindesten besorgt. Sie hatte sich immer gefragt, wie das kam. Bis jetzt.
    Er hatte sie belogen; hatte behauptet, Stinhurst hätte auf Gabriel bestanden; hatte behauptet, Gabriel könne auf keinen Fall aus dem Ensemble ausgeschlossen werden. Aber jetzt wußte sie alles, auch wenn sie die Wahrheit kaum ertragen konnte. Hätte David darauf bestanden, daß Gabriel keinen Vertrag bekam, so wären damit die Zuschauerzahlen und entsprechend die Einnahmen gesunken, und das wiederum hätte ihre Gage geschmälert - und Davids Anteil. Aber David konnte ohne Geld nicht leben. Er brauchte seine Lobb-Schuhe, seinen Rolls, die Villa am Regent's Park, das Haus auf dem Land, die Anzüge aus der Savile Row. Wenn es die Möglichkeit gab, diesen Lebensstil aufrechtzuerhalten, was machte es da schon aus,

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