02 - Keiner werfe den ersten Stein
Donald.«
Prompt versank die Bühne in Dunkelheit. Nur der Tisch selbst war jetzt noch erleuchtet. Stinhurst setzte sich wieder, zog Pfeife und Tabak heraus und legte beides auf den Tisch.
»Manchmal ist es einfacher zu lügen«, bekannte er. »Als Theaterproduzent gewöhnt man sich das leider mit der Zeit ganz von selbst an. Wenn Sie je so ein Tauziehen zwischen kreativen Egozentrikern erlebt hätten, würden Sie verstehen, was ich meine.«
»Diese Gruppe hier scheint besonders explosiv zu sein.«
»Das ist kein Wunder. Die Leute haben in den letzten drei Tagen einiges aushalten müssen.« Stinhurst begann seine Pfeife zu stopfen. Er hielt die Schultern gestrafft und saß kerzengerade: auffallender Kontrast zu der Müdigkeit, die aus seiner Stimme und seinen Gesichtszügen sprach. »Aber ich vermute, Sie sind nicht hergekommen, um sich mit mir übers Theater zu unterhalten, Mr. St. James.«
St. James reichte ihm den Stapel Vergrößerungen, die Deborah am Abend zuvor noch gemacht hatte. Jede zeigte nur ein Gesicht, höchstens noch einen angeschnittenen Oberkörper, sonst nichts. Nichts verriet, daß die Vergrößerungen aus einer Gruppenaufnahme herausgeholt waren. Darauf hatte Deborah extra geachtet.
»Würden Sie mir sagen, wer diese Leute sind.«
Stinhurst ging den ganzen Stapel durch, drehte eine Aufnahme nach der anderen langsam um. Seine Pfeife hatte er vergessen. St. James sah deutlich das Widerstreben in seinen Bewegungen und war gespannt, ob Stinhurst seiner Bitte überhaupt nachkommen würde. Er wußte ohne Zweifel genau, daß er nicht verpflichtet war, irgendwelche Auskünfte zu geben. Er wußte aber sicher auch, wie Lynley, sollte er davon erfahren, eine Weigerung interpretieren würde. St. James konnte nur hoffen, daß Stinhurst glaubte, er sei im Auftrag Lynleys hier.
Nachdem Stinhurst alle Aufnahmen durchgesehen hatte, legte er sie in einer Reihe nebeneinander und zeigte mit dem Finger auf die einzelnen Bilder, während er sprach.
»Mein Vater. Der Mann meiner Schwester, Phillip Gerrard. Meine Schwester Francesca. Meine Frau. Der Anwalt meines Vaters - er ist vor einigen Jahren gestorben, und ich kann mich im Moment nicht an den Namen erinnern. Unser Hausarzt. Ich selbst.«
Gerade den Mann, dessen Identität sie interessierte, hatte Stinhurst ausgelassen. St. James wies auf das Foto, das neben dem Francesca Gerrards lag. »Und dieser Mann, der da im Profil gezeigt ist?«
Stinhurst zog die Brauen zusammen. »Keine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben.«
»Merkwürdig«, meinte St. James.
»Wieso?«
»Weil er sich auf dem Originalfoto, aus dem diese Vergrößerungen stammen, eindeutig mit Ihnen unterhält. Und auf dem Foto sieht es so aus, als wären sie recht gut mit ihm bekannt.«
»Ach. Nun ja, vielleicht kannte ich ihn tatsächlich. Aber die gerichtliche Untersuchung über den Tod meines Bruders fand vor fünfundzwanzig Jahren statt. Ich glaube nicht, daß man von mir verlangen kann, daß ich mich nach so langer Zeit noch an jede einzelne Person erinnere, die damals dabei war.«
»Sicher nicht«, antwortete St. James. Interessant, dachte er, daß Stinhurst von der gerichtlichen Untersuchung gesprochen hatte, obwohl er - St. James - mit keinem Wort erwähnt hatte, daß die Fotografien mit ihr zu tun hatten.
Stinhurst stand auf. »Wenn das alles war, Mr. St. James ... Ich habe hier noch einiges zu tun.«
Er warf keinen Blick mehr auf die Bilder, während er sprach, und auch nicht, als er Pfeife und Tabaksbeutel zusammenpackte und sich dann zum Gehen wandte. Es war eine gänzlich unnormale Reaktion. Es war, als müsse er jeden Blick auf die Bilder unbedingt vermeiden, weil er fürchtete, sein Gesicht könne mehr verraten, als er zu sagen bereit gewesen war. Eines war sicher, dachte St. James: Lord Stinhurst wußte genau, wer der Mann auf dem Foto war.
Es gibt Arten der Beleuchtung, die den unaufhaltsamen, erbarmungslosen Prozeß des Alterns nicht verschleiern oder verwischen, sondern gnadenlos entblößen; die jeden noch so kleinen Makel aufzeigen und die Wahrheit enthüllen. Direktes Sonnenlicht, das kalte Neonlicht mancher Geschäftsräume, die Scheinwerfer beim Film, wenn kein Weichfilter verwendet wird - sie sind unerbittlich. Und eben solches Licht erhellte den Schminktisch in Joanna Ellacourts Garderobe. Zumindest an diesem Tag.
Es war ziemlich kühl im Raum, so wie sie es gern hatte, weil dann die Blumen frisch blieben, die ihr vor jeder Vorstellung
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