02 - Keiner werfe den ersten Stein
Und wenn es mich meine Stellung kostet. Also, wer kommt mit mir?«
Ehe ihr jemand antworten konnte, drangen laute Stimmen aus dem Vestibül herein, die Tür wurde aufgestoßen, und Jerem!Vinney drängte sich an Cotter vorbei ins Zimmer. Sein Gesicht war stark gerötet, und er war sichtlich außer Atem. Seine Hosenbeine waren bis zu den Knien hinauf durchweicht und seine Hände blau vor Kälte.
»Ich konnte kein Taxi bekommen«, erklärte er keuchend. »Da bin ich zu Fuß gegangen und fast den ganzen Weg vom Sloane Square gerannt, weil ich Angst hatte, Sie zu verpassen.« Er zog seinen Mantel aus und warf ihn auf die Couch. »Ich weiß jetzt, wer der Mann auf dem Foto ist, und wollte es Ihnen gleich mitteilen. Er heißt Willingate.«
»Kenneth?«
»Richtig.« Vinney machte eine Pause, um Luft zu holen.
»Aber das ist nicht alles. Das Interessanteste ist nicht, wer der Mann ist, sondern was er ist.« Er sah mit einem triumphierenden Lächeln in die Runde. »Was er 1963 war, weiß ich nicht. Aber heute ist er der Leiter von M15.«
13
Jeder im Raum erfaßte die ganze Tragweite von Vinneys Worten. MI5 - Military Intelligence, Section 5. Die Spionageabwehr der britischen Regierung. Jetzt war verständlich, wieso Vinney so überzeugt gewesen war, daß er trotz seines unangemeldeten Hereinplatzens willkommen sein würde. Er hatte gewußt, daß er im Besitz von Informationen war, die für diesen Fall von entscheidender Bedeutung waren. War er vielleicht vorher noch einer der Verdächtigen gewesen, so war er jetzt aufgrund dieser neuen Wendung eindeutig aus dem Rennen. Jedenfalls schien er davon völlig überzeugt zu sein.
»Ich hab noch mehr«, fuhr er fort. »Unser Gespräch heute morgen über den Profumo-Keeler-Skandal hat mich noch eine ganze Weile beschäftigt, und schließlich bin ich in unser Archiv gegangen, um zu sehen, ob in einem der alten Artikel vielleicht auf eine Verbindung zwischen dieser Geschichte und Geoffrey Rintouls Tod angespielt wird. Ich glaubte, Rintoul hätte vielleicht tatsächlich Beziehungen zu einem Callgirl gehabt und wollte ihretwegen an dem Silvesterabend, als er umkam, so dringend nach London zurück.«
»Aber Profumo und Keeler - das sind doch wirklich olle Kamellen«, warf Deborah ein. »So einen Uraltskandal braucht doch heute keiner mehr zu fürchten.«
Helen pflichtete ihr bei, wenn auch widerstrebend. »Deborah hat recht, Simon. Zwei Morde und die Vernichtung der Skripten, nur weil Geoffrey Rintoul vor fünfundzwanzig Jahren mit einem Callgirl liiert war? Als Motiv ist das wirklich ein bißchen schwach, finde ich.«
»Das kommt ganz darauf an, welche Bedeutung der Stellung des Mannes beigemessen wurde«, widersprach St. James.
»Nimm den Fall Profumo als Beispiel. Er war Verteidigungsminister und unterhielt Beziehungen zu einem Callgirl namens Christine Keeler, die ganz zufällig zur gleichen Zeit mit einem gewissen Jewgeni Iwanow Umgang pflegte.«
»Der der sowjetischen Botschaft angehörte, aber, wie berichtet wurde, sowjetischer Agent war«, fügte Vinney hinzu. »In einem Gespräch mit der Polizei, bei dem es um eine ganz andere Sache ging, rückte Christine Keeler von selbst damit heraus, daß man ihr aufgetragen hatte, von Profumo das Datum herauszufinden, an dem gewisse Atomgeheimnisse von den Amerikanern an die Deutschen weitergegeben werden sollten.«
»Eine reizende Person«, bemerkte Helen.
»Die Presse bekam Wind davon - wie sie möglicherweise beabsichtigt hatte -, und für Profumo wurde es brenzlig.«
»Für die ganze Regierung wurde es brenzlig«, bemerkte Barbara.
»Richtig.« Vinney nickte zustimmend. »Die Sozialisten verlangten eine Debatte im Unterhaus über Profumos Beziehungen zu Christine Keeler, und die Liberalen forderten sogar den Rücktritt des Premierministers.«
»Warum denn das?« fragte Deborah.
»Sie behaupteten, als oberster Leiter der Sicherheitsdienste sei der Premierminister entweder über Profumos Beziehung zu dem Callgirl unterrichtet gewesen und hätte sie verheimlicht, oder aber er habe sich der Inkompetenz und der Fahrlässigkeit schuldig gemacht. Aber«, fuhr Vinney fort, »in Wahrheit war es vielleicht so, daß der Premierminister fürchtete, er könne einen weiteren Skandal, der womöglich mit dem Rücktritt eines seiner Minister enden würde, nicht überleben, und daß er deshalb in der Hoffnung, es würde nichts für Profumo Abträgliches ans Licht kommen, alles auf eine Karte setzte. Wenn die Profumo-Affäre so bald nach
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