02 - Keiner werfe den ersten Stein
gesehen hatte. Und selbst wenn sie es gewußt hätten, wäre mir nichts passiert. Geoffrey hätte es nicht zugelassen. Bei der Eliminierung seines Bruders hätte er die Grenze gezogen. Er war mehr Mann als ich, immer schon.«
Marguerite Stinhurst wandte sich ab. »Sag so was nicht von dir.«
»Es ist leider wahr. - Sobald der andre Mann gegangen war, stellte ich ihn zur Rede«, sagte Stinhurst. »Er gab alles zu. Er schämte sich nicht. Er glaubte an die Sache. Und ich - ich weiß nicht, woran ich glaubte. Für mich galt nur, daß er mein Bruder war. Ich liebte ihn. Ich hatte ihn immer geliebt. Obwohl ich das, was er tat, verabscheute, brachte ich es nicht über mich, ihn zu verraten. Er hätte sofort gewußt, verstehen Sie, daß ich derjenige war, der ihn verraten hatte. Darum tat ich nichts. Aber es quälte mich jahrelang Tag und Nacht.«
»Und 1962 sahen Sie endlich eine Gelegenheit zu handeln.«
»Im Oktober wurde William Vassall der Prozeß gemacht. Im September hatte man bereits einen italienischen Physiker - Giuseppe Martelli - wegen Spionage verurteilt. Ich dachte, wenn Geoffreys Aktivitäten jetzt ans Licht kämen, so viele Jahre nachdem ich sein Geheimnis entdeckt hatte, würde er kaum auf den Gedanken kommen, daß ich derjenige gewesen sein könnte, der ihn ausgeliefert hatte. Ich - im November gab ich mein Wissen an die Behörden weiter. Die Überwachung begann. Tief im Innern hoffte ich - ich betete darum -, daß Geoffrey die Überwachung bemerken und zu den Sowjets fliehen würde. Das hat er beinahe auch getan.«
»Was hinderte ihn daran?«
Stinhurst antwortete nicht. Die zur Faust geballte Hand verkrampfte sich so stark, daß Knöchel und Finger weiß anliefen. Im Vorzimmer läutete ein Telefon. Jemand lachte. Barbara Havers hörte auf zu schreiben und warf einen fragende!Blick auf Lynley.
»Was hinderte ihn daran?« wiederholte Lynley.
»Sag es ihnen, Stuart«, sagte Marguerite Stinhurst leise.
»Sag die Wahrheit! Dies eine Mal! Endlich!«
Stuart Stinhurst rieb sich die Augen. Sein Gesicht war grau. »Mein Vater«, antwortete er. »Er tötete ihn.«
Stinhurst ging im Zimmer auf und ab, groß, schlank, kerzengerade, den Blick zu Boden gerichtet.
»Es spielte sich ziemlich genau so ab, wie Joy es in ihrem Stück dargestellt hatte. Geoff erhielt einen Anruf. Mein Vater und ich kamen in die Bibliothek, ohne daß Geoff es merkte, und hörten einen Teil des Gesprächs mit. Wir hörten, wie er sagte, irgend jemand müsse sofort in seine Wohnung und das Codeheft herausholen, sonst würde das ganze Netz auffliegen. Unser Vater begann Fragen zu stellen. Geoff, der immer wortgewandt war und geschickt mit Sprache umzugehen wußte, wollte nur weg. Er hatte keine Zeit für eine Inquisition. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, seine Antworten auf Vaters Fragen widersprachen sich. Unser Vater erriet die Wahrheit. Das war im Grunde nicht mehr schwer nach dem, was wir beide von dem Telefongespräch mitbekommen hatten. Als unser Vater erkannte, daß das Schlimmste zutraf, sah er rot. Für ihn war das mehr als Landesverrat. Es war Verrat an der Familie, an Tradition und Lebensstil. Ich glaube, er hatte in diesem Moment nur noch das Verlangen zu vernichten. Er ...« Stinhurst hob den Kopf und starrte auf die Plakate an den Wänden. »Mein Vater stürzte sich auf ihn. Er war wie ein wildes Tier. Und ich - mein Gott, ich stand da und tat gar nichts. Ich war völlig gelähmt. Zu nichts nütze. Und seitdem, Thomas, durchlebe ich jede Nacht von neuem den Moment, als ich hörte, wie Geoffreys Genick brach.«
»War der Mann Ihrer Schwester, Philipp Gerrard, auc!beteiligt?« fragte Lynley.
»Ja. Er war zwar nicht in der Bibliothek, als der Anruf für meinen Bruder kam, aber er, Francesca und meine Frau hörten meinen Vater schreien und kamen von oben heruntergelaufen. Sie stürzten ins Zimmer, als es - als es schon geschehen war. Philipp wollte sofort zum Telefon und die Polizei alarmieren. Aber wir - wir anderen redeten ihm das aus. Es hätte einen Skandal gegeben. Es wäre zum Prozeß gekommen. Unser Vater wäre vielleicht ins Gefängnis gekommen. Francesca wurde völlig hysterisch bei der Vorstellung. Phillip war anfangs nicht umzustimmen, aber was konnte er letztendlich gegen uns alle, besonders gegen Francesca, ausrichten? Er gab schließlich klein bei und half uns, ihn - meinen Bruder, meine ich - zu der Straßengabelung hinaufbringen, wo das Gefalle nach Kilparie hinunter beginnt. Wir nahmen nur den
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