02 - Keiner werfe den ersten Stein
ständig bei ihr an. Heute morgen habe ich bei ihr geklingelt. Wo ist sie? Was hat sie dir gesagt?«
Er folgte dem Freund ins Labor und wartete geduldig auf Antwort. St. James gab, ohne etwas zu sagen, rasch eine Notiz in seinen Computer ein. Lynley kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß es keinen Sinn hatte, ihn zu drängen. Er hielt seine Befürchtungen fest im Zaum und sah sich, während er auf St. James' Antwort wartete, in dem Raum um, in dem Helen einen so großen Teil ihrer Zeit verbrachte.
Das Labor war seit Jahren St. James' Refugium, ein großer ruhiger Raum, mit allen Geräten, vom Mikroskop bis zum Computer, die er für seine wissenschaftliche Arbeit brauchte. In einer Ecke stand seine neueste Anschaffung, ein Videogerät, auf dessen Bildschirm Mikroskopproben von Blut, Haar, Haut oder Fasern in Vergrößerung sichtbar gemacht werden konnten. Lynley erinnerte sich, wie Helen ihm unter Gelächter St. James' Bemühungen geschildert hatte, ihr den Umgang mit dem Apparat beizubringen.
»Hoffnungslos, Tommy. Eine Videokamera, die an ein Mikroskop angeschlossen ist! Kannst du dir vorstellen, was für Angstzustände ich bekommen habe? Dieser ganze moderne Computerkram ist mir einfach unheimlich. Ich habe doch gerade erst gelernt, wie man eine Tasse Wasser in einem Mikrowellenherd heiß macht.« Was natürlich nicht stimmte. Er hatte dennoch mit ihr gelacht und alle Probleme, die er an dem Tag vielleicht mit sich herumgeschleppt hatte, vergessen. Das war Helens besondere Begabung.
Er mußte es wissen. »Was ist mir ihr? Was hat sie dir gesagt?«
St. James gab noch eine Information in den Computer ein, begutachtete die sich daraus ergebenden Veränderungen an dem Diagramm auf dem Bildschirm und schaltete das Gerät aus.
»Nur das, was du ihr gesagt hast«, antwortete er in distanziertem Ton. »Sonst leider gar nichts.«
Lynley wußte, wie er diesen ausgesucht sachlichen Ton zu interpretieren hatte, aber er wollte sich jetzt nicht auf die Diskussion einlassen, die St. James' Worte eigentlich herausforderte. Statt dessen sagte er: »Deborah hat mir eben erzählt, daß Vinney dich angerufen hat.«
»Ja.« St. James drehte sich auf seinem Hocker herum, glitt unbeholfen von ihm herunter und ging zu einem Arbeitstisch, wo fünf Mikroskope aufgereiht standen. »Anscheinend ist nicht eine einzige Zeitung bereit, auch nur eine Zeile über Joy Sinclairs Ermordung zu bringen. Vinney erzählte mir, er habe heute morgen einen Artikel darüber eingereicht und sofort zurückbekommen.«
»Na ja, Vinney ist schließlich auch Theaterkritiker und nicht Polizeiberichterstatter«, meinte Lynley.
»Das ist richtig. Aber als er herumtelefonierte, um festzustellen, ob einer seiner Kollegen die Story bearbeitet, entdeckte er, daß keinem von ihnen ein Auftrag gegeben worden ist. Da ist ganz offensichtlich von höherer Stelle aus ein Riegel vorgeschoben worden. Vorläufig, wie man ihm sagte. Bis eine Verhaftung erfolgt ist. Er war unheimlich aufgebracht darüber, das kannst du mir glauben.« St. James blickte von einem Stapel Objektträger auf, die er gerade ordnete. »Er ist hinter Geoffrey Rintouls Story her, Tommy. Und einer Verbindung zwischen dieser alten Geschichte mit Joy Sinclairs Tod. Ich habe den Eindruck, er wird keine Ruhe geben, bis er nicht seinen Artikel gedruckt sieht.«
»Da wird er lange warten müssen. Erstens gibt es auch nicht den Schatten eines Beweises gegen Geoffrey Rintoul. Zweitens sind die Hauptpersonen tot. Und ohne absolut stichhaltige Beweise wird keine Zeitung im ganzen Land eine Story bringen, die ihr möglicherweise eine Verleumdungsklage der Familie Stinhurst eintragen wird.«
Lynley fühlte sich von plötzlicher Ruhelosigkeit gepackt. Er begann im Zimmer hin und her zu gehen, blieb schließlich am Fenster stehen und sah hinunter in den Garten. Der Rasen und die Beete waren schneebedeckt, aber er konnte sehen, daß alle empfindlichen Pflanzen in Sackleinwand eingehüllt waren und auf der Gartenmauer Vogelfutter ausgestreut war. Deborah, dachte er.
»Irene Sinclair glaubt, daß Joy an dem Abend vor ihrem Tod bei Robert Gabriel im Zimmer war«, sagte er und berichtete kurz, was er von Irene gehört hatte. »Sie erzählte es mir erst gestern abend. Sie hatte es für sich behalten, weil sie Gabriel schützen wollte.«
»Dann war Joy Sinclair an dem Abend sowohl mit Gabriel al!auch mit Vinney zusammen?«
Lynley schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht. Sie kann nicht mit Gabriel zusammen
Weitere Kostenlose Bücher