02 - Keiner werfe den ersten Stein
verschneiter Einsamkeit. Weit und breit keine Menschenseele und keine Möglichkeit zu entkommen. Es handelt von einer Familie. Und von einem Mann, der ums Leben kommt, und den Menschen, die ihn töten mußten. Und warum sie ihn töten mußten. Um das Warum geht es ganz besonders.« Helen hatte erwartet, daß gleich die Wölfe zu heulen anfangen würden.
»Das klingt, als habe sie das als Botschaft für irgend jemanden gedacht.«
»Ja, nicht wahr? Und als wir später alle im Wohnzimmer saßen und sie die Änderungen durchzugehen begann, sagte sie noch einmal fast das gleiche.«
Die Handlung drehe sich um eine Familie und eine mißlungene Silvesterfeier. Der älteste Bruder hatte, wie Joy erzählte, ein schreckliches Geheimnis, das bald das Leben aller zerstören oder drastisch verändern sollte.
»Und dann fingen sie zu lesen an«, berichtete Helen weiter. »Jetzt tut es mir leid, daß ich nicht genauer darauf geachtet habe, was gelesen wurde. Aber es war so stickig in dem Zimmer - das heißt nein, eigentlich war die Atmosphäre mehr gespannt wie kurz vor einer Explosion -, daß ich kaum aufgepaßt habe. Nur an eines kann ich mich noch genau erinnern: Kurz bevor Francesca Gerrard ausflippte, hatte der ältere Bruder in dem Stück - Lord Stinhurst las die Rolle, da sie noch nicht besetzt ist - gerade einen Anruf erhalten. Er beschloß, unverzüglich da!Haus zu verlassen, und sagte, es fiele ihm nicht ein, nach siebenundzwanzig Jahren ein zweiter Vasall zu werden. Ich glaube, das war der genaue Wortlaut. Daraufhin sprang Francesca auf, und der ganze Abend endete im Chaos.«
»Vasall?« wiederholte St. James verwundert.
Sie nickte. »Merkwürdig, nicht? Das Stück hatte mit Feudalismus nichts zu tun. Ich dachte, es wäre vielleicht irgendwas ganz Avantgardistisches, das nur ich nicht kapiere, weil ich ein bißchen hinterm Mond bin.«
»Die anderen verstanden es?«
»Stinhurst, seine Frau, Francesca Gerrard und Elizabeth eindeutig. Die anderen fanden es, glaube ich, abgesehen von ihrer Verärgerung über diese kurzfristigen Änderungen, genauso sonderbar wie ich.« Helens Finger kreiste um den Rand des Stiefels, den sie noch immer in der Hand hielt. »Kurz gesagt, ich hatte den Eindruck, daß das Stück jedenfalls in den Augen fast aller Beteiligten seinen noblen Zweck völlig verfehlt hatte. Es hatte im übrigen gleich mehrere noble Zwecke. Einmal sollte durch diese Uraufführung Stinhursts Leistung geehrt werden, die Wiedereröffnung des Agincourt; weiter sollte es der Feier von Joanna Ellacourts Bühnenjubiläum dienen; und schließlich sollte es für Irene Sinclair und Rhys Davies-Jones ein neuer Start sein. Vielleicht hatte Joy sogar Jeremy Vinney eine Rolle zugedacht. Irgend jemand sagte, er hätte sich als Schauspieler versucht, ehe er Kritiker wurde. Sonst hätte er ja eigentlich auch keinen Grund gehabt, bei der Lesung dabei zu sein, wenn man mal davon absieht, daß er von Anfang an regelmäßig über Stinhursts Bemühungen um das Agincourt berichtet hat. Du siehst also«, schloß sie beinahe drängend, »Es wäre doch völlig irrsinnig, wenn eine von diesen Personen Joy getötet hätte. Sie können gar kein Interesse an ihrem Tod gehabt haben.«
St. James sah sie mit einem liebevollen Lächeln an. »Besonders Rhys nicht«, sagte er sehr behutsam.
Helen sah die Güte und die Anteilnahme in seinen Augen. Sie wußte, daß St. James vor allen anderen sie verstehen würde. Und darum sprach sie.
»Gestern nacht mit Rhys. Es war - das erste Mal seit Jahren, daß ich mich so geliebt fühlte, Simon. So wie ich bin, mit allen meinen Fehlern und meinen Tugenden, mit meiner Vergangenheit und meiner Zukunft. Das habe ich bei einem Mann nicht mehr erlebt, seit ...« sie zögerte, sprach es aber dann doch aus, »seit dir. Ich hatte nicht erwartet, daß ich es je wieder erleben würde. Zur Strafe. Für das, was damals zwischen uns geschah.«
St. James schüttelte den Kopf, ohne etwas zu erwidern. Erst nach einer kleinen Pause sagte er: »Konzentrier dich, Helen, bist du sicher, daß du gestern nacht nichts gehört hast?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Als du das erste Mal mit Deborah geschlafen hast, was hast du da außer ihr wahrgenommen?«
»Ja, natürlich, du hast recht. Das Haus hätte bis auf die Grundmauern niederbrennen können, ich hätte es überhaupt nicht bemerkt.« Er stand auf, hängte seinen Mantel wieder an den Haken und bot ihr die Hand. Als sie die ihre reichte, runzelte er erschrocken
Weitere Kostenlose Bücher