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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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die Stirn. »Du lieber Gott, was hast du denn da gemacht?«
    »Was denn?«
    »An deiner Hand, Helen.«
    Sie senkte den Blick und sah, daß ihre Finger mit Blut verschmiert waren bis unter die Fingernägel. Sie fuhr zurück.
    »Wo - ich versteh nicht -«
    Auch an ihrem Rock war Blut. Sie suchte die Quelle. Ihr Blick fiel auf den Stiefel, den sie in der Hand gehalten hatte. Sie hob ihn auf und betrachtete den klebrigen Schmier am oberen Rand, Schwarz auf Schwarz im trüben Licht der Kammer. Wortlos reichte sie ihn St. James.
    Er drehte den Stiefel über der Bank um und schlug ihn mehrmals kräftig auf das Holz. Ein großer Handschuh rutschte heraus, früher einmal Leder und Pelz, jetzt nur noch eine blutverklebte Masse. Noch nicht trocken.

    Das Wohnzimmer auf Westerbrae, links der breiten Freitreppe gelegen, schien Lynley, da es gerade halb so groß war wie die Bibliothek, eine etwas seltsame Wahl für die Zusammenkunft einer größeren Gesellschaft. Alles war noch so, wie es zur Lesung von Joy Sinclairs Stück angeordnet gewesen war, Stühle und Tische in einem Halbkreis in der Mitte des Raumes für die Schauspieler, an den Wänden Sessel für jene, die nur Zuhörer gewesen waren. Auch die Dünste des unseligen Abends hingen noch im Raum; es roch nach dem kalten Rauch von Zigaretten, nach abgebrannten Streichhölzern, Kaffee und Alkohol.
    Als Lord Stinhurst unter dem wachsamen Blick von Barbara Havers eintrat, wies Lynley ihn zu einem wenig einladenden hochlehnigen Stuhl am offenen Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Draußen trafen mit großem Getöse gerade die Beamten von der Spurensicherung der Dienststelle Strathclyde ein.
    Stinhurst nahm ohne Widerspruch den ihm zugewiesenen Platz ein und schlug ein Bein über das andere. Die angebotene Zigarette lehnte er ab. Er war tadellos gekleidet, perfekt für ein Wochenende auf dem Land, und sein ganzes Verhalten zeigte die Selbstsicherheit des Mannes, der es gewöhnt ist, im Rampenlicht zu stehen, die Augen Hunderter auf sich zu wissen. Doch er wirkte völlig erschöpft, ob vor Müdigkeit oder von dem Bemühen, die Frauen seiner Familie in dieser schweren Krise zu stützen, hätte Lynley nicht sagen können. Er benutzte die Gelegenheit, um den Mann eingehend zu mustern, während Barbara Havers geräuschvoll in ihrem Block blätterte.
    Cary Grant, dachte Lynley zum Schluß seiner Musterung, und der Vergleich gefiel ihm. Obwohl Stinhurst über siebzig war, hatte sein Gesicht kaum etwas von der jugendlichen Kraft verloren, die die gutgeschnittenen Züge mit dem energisch ausgeprägten Kinn immer ausgezeichnet hatte. Sein Haar war zwar ergraut, aber so kräftig und voll wie eh und je. Schlank und beweglich, hatte Stinhurst nichts von einem Greis, schien vielmehr lebender Beweis für die Behauptung, daß rastloser Fleiß der Schlüssel zur Jugend sei.
    Doch die freundliche Gelassenheit, das spürte Lynley, war nur Schutzschild. Was diesen Mann vor allem kennzeichnete, war sein Wille zu absoluter Kontrolle, und er schien diese Kontrolle erfolgreich auszuüben: über seinen Körper, seine Gefühle und seinen Geist. Dieser Geist war, soweit Lynley feststellen konnte, ausgesprochen wach und lebendig, durchaus fähig, kühl darüber zu befinden, wie man am besten mit einem Berg lästigen Beweismaterials fertig wurde. In diesem Augenblick zeigte Stinhurst nur ein einziges Anzeichen von Nervosität angesichts des bevorstehenden Gesprächs: Er preßte immer wieder Daumen und Zeigefinger kurz und heftig zusammen. Lynley fand das interessant und war gespannt, ob Stinhurst sich unter wachsendem Druck durch weitere Gesten verraten würde.
    »Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich«, sagte Stinhurst.
    »Aber das bekommen Sie wahrscheinlich häufig zu hören.«
    Lynley sah, wie Havers mit einem Ruck den Kopf hob.
    »In meiner Arbeit im allgemeinen nicht«, erwiderte er.
    »Ich würde gern von Ihnen hören, warum Sie Joy Sinclairs Manuskripte verbrannt haben.«
    Stinhurst zeigte durch nichts, ob Lynleys Weigerung, ein Band der Gemeinsamkeit zwischen ihnen anzuerkennen, ihn berührte. Er sagte nur: »Bitte ohne Ihre Mitarbeiterin.«
    Barbara betrachtete den alten Mann mit verächtlich zusammengekniffenen Augen. Sie wartete auf Lynleys Erwiderung und lächelte mit Genugtuung, als er mi!Entschiedenheit sagte: »Das ist nicht möglich.« Befriedigt lehnte sie sich wieder in ihrem Sessel zurück.
    Stinhurst machte keine Bewegung. Er hatte Barbara Havers nicht einmal eines Blickes gewürdigt,

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