02 - Keiner werfe den ersten Stein
ehe er um ihre Entfernung gebeten hatte. Jetzt entgegnete er ruhig: »Ich muß darauf bestehen, Thomas.«
Als Lynley seinen Vornamen aus dem Mund dieses Fremden hörte, fielen ihm nicht nur Barbara Havers' zornig vorgetragene Zweifel ein, daß er Stinhurst ebenso hart anfassen werden wie zuvor Helen; auch die Befürchtungen, die sogleich wach geworden waren, als man ihm den Fall übertragen hatte, meldeten sich wieder. Es war wie eine Warnung.
»Dieses Recht haben Sie leider nicht.«
»Recht?« Stinhurst lächelte wie ein Pokerspieler, der weiß, daß sein Blatt alle anderen schlagen wird. »Mein lieber Thomas, daß ich hier verpflichtet sein soll, mich mit Ihnen zu unterhalten, ist doch nichts als Einbildung. So funktionieren unsere Gesetze nicht. Das wissen Sie so gut wie ich. Entweder Ihre Mitarbeiterin verläßt das Zimmer, oder wir warten auf meinen Anwalt. Aus London.«
Es klang wie eine milde Mahnung an ein störrisches Kind. Aber die Worte entsprachen der Realität, und Lynley sah sofort die Alternativen, die sich ihm boten: ein spitzfindiges Gefecht mit dem Anwalt des Mannes oder ein Einlenken, das vielleicht durch Auskünfte belohnt werden würde, die seine Ermittlungen vorantrieben. Er hatte im Grunde keine Wahl.
»Bitte gehen Sie, Sergeant«, sagte er zu Havers, ohne Stinhurst aus den Augen zu lassen.
»Inspector -« Ihre Stimme war nur mühsam beherrscht.
»Kümmern Sie sich um Gowan Kilbride und Mary Agnes Campbell«, fügte Lynley hinzu. »Das spart uns Zeit.«
Barbara atmete einmal tief durch. »Kann ich Sie draußen eine!Moment sprechen?«
Das immerhin war Lynley bereit, ihr zuzugestehen. Er folgte ihr in die große Halle und schloß die Tür. Barbara blickte hastig nach rechts und links, dann begann sie zornig zu flüstern.
»Was, zum Teufel, soll das heißen, Inspector? Sie können ihn doch nicht allein verhören. Mir halten sie seit fünfzehn Monaten bei jeder verdammten Gelegenheit die Dienstvorschrift vor, und was tun Sie?«
Lynley ließ sich von ihrem Zorn nicht beeindrucken. »Für mich hat Webberly die ganze Dienstvorschrift über Bord geworfen, Sergeant, als er uns diesen Fall ohne förmliches Hilfsersuchen von der Dienststelle Strathclyde übertrug. Ich werde jetzt nicht meine Zeit damit vertun, mir über die Dienstvorschrift den Kopf zu zerbrechen.«
»Aber Sie brauchen einen Zeugen. Sie brauchen das Protokoll. Wozu wollen Sie ihn überhaupt verhören, wenn Sie hinterher nichts Schriftliches in der Hand haben, das Sie mit -« Sie riß plötzlich die Augen auf. »Es sei denn, Sie wissen jetzt schon, daß Sie seiner werten Lordschaft jedes beschissene Wort glauben werden.«
Lynley arbeitete lange genug mit Barbara Havers zusammen, um zu wissen, wann ein verbales Scharmützel zur Schlacht auszuarten drohte. Er fuhr sofort in die Parade.
»Irgendwann in nächster Zukunft müssen Sie sich endlich einmal darüber klarwerden, Barbara, ob ein Zufallsfaktor wie die Geburt eines Menschen Grund genug ist, ihm zu mißtrauen.«
»Was soll das nun wieder heißen? Soll ich Stinhurst vielleicht trauen? Er hat Beweismaterial vernichtet, steckt bis zum Hals in einer Mordsache und zeigt sich in keiner Weise kooperativ. Und da soll ich ihm trauen?«
»Ich sprach nicht von Stinhurst. Ich sprach von mir.«
Sie sperrte den Mund auf und war sprachlos. Er wandte sich zur Tür. Die Hand auf dem Knauf, drehte er sich noch einmal um.
»Sprechen Sie mit Gowan und Mary Agnes. Machen Sie ein Protokoll. Nehmen Sie Constable Lonan mit. Haben Sie mich verstanden?«
Barbara warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Absolut -Sir.« Sie knallte ihren Block zu und ging davon.
Als Lynley ins Wohnzimmer zurückkehrte, sah er, daß Stinhurst sich dank der veränderten Umstände sichtlich entspannt hatte. Er saß nicht mehr, als hätte er ein Lineal verschluckt, auf seinem Stuhl; er wirkte plötzlich weit weniger eisern, weit verletzlicher. Der Blick seiner grauen Augen, die auf Lynley gerichtet waren, ließ keine Rückschlüsse zu.
»Danke, Thomas.«
Diese chamäleonhafte Veränderung, dieser mühelose Übergang von Hochmut zu Dankbarkeit, erinnerte Lynley daran, daß Stinhurst in der Welt des Theaters zu Hause war.
»Kommen wir noch einmal auf die Manuskripte zurück«, sagte er.
»Dieser Mord hat mit Joy Sinclairs Theaterstück nichts zu tun.« Stinhursts Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf Lynley, sondern auf die zertrümmerte Glasscheibe der Vitrine neben der Tür. Er stand von seinem Stuhl auf und
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