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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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bisher nach einer eigenen Logik entwickelt hatten und er intuitiv dieser Logik gefolgt war, um zu sehen, wohin sie führte. Das wäre wahr gewesen, und es wäre eine Erklärung gewesen. Aber darüber hinaus war sich Lynley einer weiteren unangenehmen Wahrheit bewußt: Er hatte den tiefen Wunsch, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, und kam nicht damit zurecht, weil ihm ein solcher Wunsch bei sich selbst so fremd war.
    Im Nebenzimmer konnte er Helen hören, ihren leichten Schritt, ihre flinken, entschlossenen Bewegungen. Tausendmal hatte er sie in vergangenen Jahren so gehört, ohne sich dessen bewußt zu sein. Die Geräusche kamen ihm jetzt überlaut vor, als wollten sie sich für immer seinem Bewußtsein einprägen.
    »Ich will ihr nicht weh tun«, sagte er schließlich.
    St. James war dabei, seine Beinschiene an einem schwarzen Schuh zu befestigen. Bei Lynleys Worten hielt er inne, in der einen Hand den Schuh, in der anderen die Schiene. Das meist so ruhige Gesicht zeigte Überraschung. »Du hast schon eine seltsame Art, das zu zeigen, Tommy.«
    »Du redest genau wie Havers. Aber was soll ich denn tun? Helen ist fest entschlossen, einfach die Augen zu verschließen. Soll ich ihr jetzt die Fakten vor Augen halten, oder soll ich den Mund halten und zusehen, wie sie noch tiefer in die Beziehung zu diesem Mann hineingerät und dann völlig niedergeschmettert ist, wenn sie erkennen muß, wie er sie benützt hat?«
    »Wenn er sie benützt hat«, warf St. James ein.
    Lynley zog ein sauberes Hemd über und knöpfte es mit schlecht versteckter Erregung zu. »Wenn? Was glaubst denn du, warum er sie gestern nacht in ihrem Zimmer besucht hat, St. James?«
    Er erhielt keine Antwort auf seine Frage, aber er spürte den Blick des Freundes auf seinem Gesicht, während er seine Krawatte zu knoten versuchte und sich dabei verhedderte. »Ach, verdammt!« brummte er unwillig.

    Helen öffnete die Tür, als es klopfte. Sie erwartete, Sergeant Havers, Lynley oder St. James zu sehen, bereit, sie zum Essen hinunterzugeleiten, als wäre sie entweder die Hauptverdächtige oder die Kronzeugin, die dringend des Polizeischutzes bedurfte. Aber es war Rhys. Er sagte nichts, sein Gesicht drückte Zweifel aus, Unsicherheit über den Empfang, den er zu erwarten hatte.
    Aber als Helen lächelte, trat er ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
    Sie sahen einander an wie zwei Liebende, die wissen, daß sie etwas Verbotenes tun und doch nach der heimlichen Zusammenkunft hungern. Das Gefühl, sich heimlich sehen, sich ihrer Zusammengehörigkeit versichern zu müssen, erhöhte das Verlangen und festigte das zwischen ihnen neu geknüpfte Band. Als er die Arme ausbreitete, zögerte Helen keinen Augenblick.
    Voll zärtlichen Verlangens küßte er ihre Stirn, ihre Augen, ihre Wangen und endlich ihren Mund. Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Arme schlossen sich fester um ihn, hielten ihn näher, als könne seine Nähe sie die schlimmsten Dinge des Tages vergessen machen. Der Druck seines Körpers weckte süße Begierde in ihr, sie begann zu zittern. Sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter, während seine Hände ihren Körper streichelten.
    »Helen, Liebste«, flüsterte Rhys. Mehr konnte er nicht sagen, denn bei seinen Worten hob sie den Kopf und suchte wieder seinen Mund. Nach einer kleinen Weile murmelte er in bestem schottischen Tonfall: »Ich bin ganz verrückt nach dir«, und fügte mit einem leisen Lachen hinzu: »Aber das hast du sicher inzwischen gemerkt.«
    Helen hob den Kopf und strich ihm über die graumelierten Schläfen. Sie lächelte, fühlte sich irgendwie getröstet, obwohl sie nicht wußte, warum das so sein sollte.
    »Wo hat ein finsterer Walliser wie du Schottisch gelernt?«
    Sein Mund zuckte ein wenig, seine Arme erstarrten nur einen kurzen Moment, und Helen wußte, noch ehe er antwortete, daß sie in aller Unschuld die falsche Frage gestellt hatte.
    »Im Krankenhaus«, sagte er.
    »Ach Gott, Rhys. Das tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht -«
    Rhys schüttelte den Kopf, zog sie näher an sich und drückte seine Wange an ihr Haar. »Ich habe dir nichts davon erzählt, nicht wahr? Ich glaube, ich wollte nicht, daß du es erfährst.«
    »Dann laß es doch -«
    »Nein. Das Krankenhaus war gleich außerhalb von Portree. Auf Skye. Im tiefsten Winter. Graues Meer, grauer Himmel, graues Land. Ich sah die Schiffe zum Festland fahren und wünschte mir, ich könnte mit. Ich glaubte, Skye würde mich erst richtig zum Trinker

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