02 - Keiner werfe den ersten Stein
ausgezeichnet.«
»Ein echter Held also«, bemerkte Barbara.
»Ja, und das ist noch nicht alles«, sagte Helen. »Trotz seiner Verwundung, die es ihm erlaubt hätte, nach England zurückzukehren, ging er auf eigenen Wunsch wieder an die Front und kämpfte bis Kriegsende im Balkan. Churchill wollte dort angesichts der drohenden russischen Übermacht wenigstens ein gewisses Maß an britischem Einfluß aufrechterhalten, und Geoffrey war offenbar ein treuer Anhänger Churchills. Als er nach Hause kam, übernahm er sofort einen Posten im Verteidigungsministerium.«
»Es wundert mich, daß so ein Mann nicht in die Politik gegangen ist.«
»Oh, man hat ihm mehrmals vorgeschlagen, sich zur Wahl ins Parlament aufstellen zu lassen, aber er wollte nicht.«
»Und er hat nie geheiratet?«
»Nein.«
Als St. James Anstalten machte, aus seinem Sessel aufzustehen, hob Helen abwehrend die Hand. Sie stand selbst auf und schenkte ihm eine zweite Tasse Kaffee ein.
»War er homosexuell?« fragte Barbara.
»Wenn er das war, dann war er die Diskretion in Person. Das gilt im übrigen für jede Beziehung, die er vielleicht gehabt hat. Es gibt überhaupt keinen Klatsch über ihn.«
»Auch nicht über seine Beziehung zu Lord Stinhursts Frau?«
»Nichts.«
»Alles zu schön, um wahr zu sein«, bemerkte St. James.
»Was haben Sie für uns, Barbara?«
Sie wollte gerade ihren Block herausziehen, als Cotter mit dem versprochenen Imbiß für Barbara und dem Kuchen für Helen und St. James eintrat. Sie dankte ihm und lächelte, als sie sah, daß er ihr zur Abrundung ihres Mahls ebenfalls ein Stück Schokoladenkuchen mitgebracht hatte.
Cotter zwinkerte ihr verschmitzt zu, vergewisserte sich, daß noch genug Kaffee da war, und ging wieder.
»Essen Sie erst einmal«, sagte Helen. »Solange ich diesen köstlichen Schokoladenkuchen vor mir stehen habe, kann ich mich sowieso nicht auf etwas anderes konzentrieren. Wir können weitermachen, wenn Sie fertig sind.«
Mit einem Nicken des Dankes für das taktvolle Verständnis, das so typisch war für Helen, machte sich Barbara mit herzhaftem Appetit über ihr Essen her. Erst als sie schließlich den Kuchen und eine zweite Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, nahm sie ihren Block heraus.
»Ich hab ein paar Stunden in der Staatsbibliothek rumgeschnüffelt, aber nach allem, was ich gefunden habe, scheint am Tod von Geoffrey Rintoul nichts Verdächtiges gewesen zu sein. Meine Quellen sind vor allem Zeitungsberichte über die Leichenschau. In der Nacht, als er umkam, genau gesagt, in den frühen Morgenstunden des Neujahrstags 1963, war in Schottland ein schwerer Schneesturm.«
»Wenn man bedenkt, wie das Wetter dort oben letztes Wochenende war, ist das leicht zu glauben«, bemerkte Helen.
»Der Beamte, der den Unfall aufnahm - ein Inspector Glencalvie -, sagte aus, die Stelle der Straße, wo es zu dem Unfall kam, sei völlig vereist gewesen. Rintoul verlor in einer Haarnadelkurve die Kontrolle über seinen Wagen, das Fahrzeug stürzte die Böschung hinunter und überschlug sich mehrmals.«
»Er wurde nicht herausgeschleudert?«
»Anscheinend nicht, nein. Er brach sich das Genick und verbrannte im Wagen.«
Helen sah St. James an. »Könnte das nicht vielleicht bedeuten -«
»- daß da eine andere Leiche untergeschoben wurde, meinst du?« fiel er ihr ins Wort. »So etwas gibt es heutzutage nicht mehr, Helen. Man hatte ganz sicher seine Patientenkarte vom Zahnarzt und Röntgenaufnahmen, um ihn zu identifizieren. Gab es Zeugen bei dem Unfall, Barbara?«
»Den Unfall selbst hat niemand beobachtet, nein. Der erste, der an der Unfallstelle war, war der Bauer von Hillview Farm. Er hörte den Krach und lief sofort hin.«
»Und wer ist das?«
»Hugh Kilbride, Gowans Vater.«
Alle drei schwiegen einen Moment und dachten über diese Information nach, während das Feuer im Kamin knisterte und knackte.
»Seitdem«, sagte Barbara schließlich, »überlege ich dauernd, was Gowan tatsächlich meinte, als er am Schluß diese drei Worte zu uns sagte: ›hab nicht gesehen‹. Zuerst glaubte ich natürlich, es hätte mit Joy Sinclairs Tod zu tun. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht bezog es sich auf etwas, das sein Vater ihm erzählt hatte.«
»Ja, das ist sicher eine Möglichkeit.«
»Aber das ist noch nicht alles.« Sie berichtete ihnen von ihrer Durchsuchung von Joy Sinclairs Arbeitszimmer und dem Fehlen jeglichen Materials zu dem Theaterstück für Lord Stinhurst, an dem sie gearbeitet
Weitere Kostenlose Bücher