02 - komplett
offensichtlich erfreut darüber, die Adressatin einer so vertraulichen Bitte zu sein.
„Sie müssen wissen, Ma’am“, fuhr Hester also fort, „ich hatte gehofft, in einer so kleinen, achtbaren Gesellschaft wie der hier in Winterbourne könne die Tatsache, dass ich allein leben muss, von Ihrer freundlichen Anteilnahme und der Gegenwart meiner lieben Miss Prudhome ausgeglichen werden.“ Daraufhin nickte ihre aufmerksame Zuhörerin, und Hester wagte sich weiter vor. „Doch stellen Sie sich mein Unbehagen vor, liebe Mrs. Redland, als ich feststellen musste, dass mein nächster Nachbar ein Junggeselle ist, der außerdem hier in der Gegend unbekannt ist. Noch schlimmer, dass seine Ankunft hier zeitlich fast mit meiner zusammenfiel.
Von meiner Dienerschaft musste ich mir leider sagen lassen, im Dorf gäbe es Gerüchte, an denen, wie ich Ihnen versichere, kein Körnchen Wahrheit ist – Seine Lordschaft hat sich immer wie ein vollkommener Gentleman benommen.“ Von dem Kuss musste ja keiner etwas wissen. „Sie sehen, warum ich so besorgt bin.“
„In der Tat.“ Mrs. Redland nahm Hesters Arm und führte sie zum Fenstersitz. „Keiner, der Ihre Bekanntschaft und die der lieben Miss Prudhome gemacht hat, wird etwas Böses von Ihnen denken, meine Liebe. Wie Sie schon sagen, auf dem Land ist es nicht wie in der Stadt. Andererseits verstehe ich Ihre Besorgnis. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich die Damen unseres kleinen Kreises einweihen. Sie werden sich genau wie ich für Sie einsetzen und gewiss bereit sein, Ihnen jeden zusätzlichen Schutz zukommen zu lassen, den Sie wünschen.“
Das war sogar mehr, als Hester sich erhofft hatte. Mrs. Redland nahm ihre überschwänglichen Dankesbezeugungen mit einem gnädigen Lächeln auf, und Hester begrüßte die anderen Damen, die sie kannte. Im nächsten Moment wurde Miss Nugent hereingeführt.
Nachdenklich betrachtete Hester Sir Lewis’ Schwester. Sie besaß das gleiche dunkle Haar und die großen grünbraunen Augen wie ihr Bruder, war von mittlerer Größe und verfügte über eine sehr hübsche, zierliche Figur. Der Ausdruck tapfer geduldeten Kummers kam Hester leicht übertrieben vor, aber sie tadelte sich für ihr mangelndes Mitgefühl. Kein Mensch ging auf die gleiche Weise mit der Trauer um einen lieben Menschen um. Nur weil sie selbst nicht unter einem Übermaß an Empfindsamkeit litt, bedeutete das nicht, dass eine andere Frau es nicht konnte.
„Wie geht es Ihnen, Miss Lattimer?“ Miss Nugent ließ ihre zarte kleine Hand kurz in Hesters liegen. Sofort kam Hester sich plump und unbeholfen vor.
„Miss Nugent. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen. Zwar kannte ich Ihren Vater nicht, aber ich weiß, dass er allen hier in der Gegend sehr fehlt.“
„Ich danke Ihnen“, sagte sie mit einem tapferen Seufzer und senkte die Lider. Dann schien sie sich wieder zu fassen. „Fühlen Sie sich in Moon House wohl? Ich selbst kann nicht verstehen, warum Sie dort wohnen möchten. Lewis meint, am liebsten würde er es Ihnen wieder abkaufen. Der arme Papa war viel zu kränklich, um sich Gedanken über so etwas zu machen.“
„Worüber?“, fragte Hester.
Miss Nugent machte eine vage Handbewegung. „Ach, über die Geschichten, die man sich im Dorf erzählt, über die Lichter im Haus und so weiter. Gespenstergeschichten sind ja sehr spannend, aber kaum jemand wird in einem Spukhaus leben wollen, nicht wahr?“
„Nein, wohl kaum“, sagte Hester so gelassen wie möglich. „Allerdings glaube ich nicht an Gespenster und lasse mir keinen Moment einreden, in Moon House könne es spuken.“
„Sie sind so mutig!“, rief Miss Nugent in einem Ton, der deutlich zeigte, wie töricht sie Hester fand. „Ich weiß nur, dass der liebe Papa all die Jahre keinen Käufer dafür finden konnte. Nicht nach dem ersten Viertel des Mondes jedenfalls.“
„Warum nicht?“
„Offenbar haben die diversen Erscheinungen, falls man sie so nennen kann, etwas mit dem Mond zu tun, so erzählt man sich in meiner Familie. Ich werde nachschauen müssen. Aber vielleicht sind Sie für solche Dinge nicht empfindsam genug und bemerken sie gar nicht?“
Hester hätte selbst dann nicht zugegeben, etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben, wenn ein kopfloser Reiter mitten durch die Küche gestürmt wäre. „Das wird es sein“, entgegnete sie leichthin. „Ich besitze nicht die geringste Empfindsamkeit.“
„Sie müssen uns einmal besuchen“, sagte Miss Nugent.
Weitere Kostenlose Bücher