02 - komplett
auf etwas. Aufgeregt hielt sie die Lampe hoch und holte ein Gemälde hervor, wobei Unmengen von Staub und unzählige Bänder auf sie herabfielen. Die Leinwand war in Streifen geschnitten worden und hing nur noch am Rahmen des Gemäldes.
Ein eisiger Schauder durchfuhr sie. Wer immer das getan hatte, musste bittere Wut und Hass empfunden haben und besessen gewesen sein von dem Wunsch, jemandem zu schaden.
Wie sehr sehnte sie sich nach Guy, der ihr in diesem Moment ein so großer Trost gewesen wäre. Doch sie erhob sich, blies ihre Lampe aus und trug das Gemälde mit seinen flatternden Fetzen nach unten. Maria kam aus dem unbenutzten Schlafzimmer und schüttelte den Kopf. „Ich habe jeden Teppich aufgerollt und die Fensterläden ganz abgenommen – nichts. Du meine Güte, was haben Sie da?“
„Kommen Sie nach unten. Ich zeige es Ihnen. Susan!“
Im Speisezimmer legte sie ihren Fund auf den Tisch. „Dann wollen wir mal sehen ...“
Sie brach ab, weil ein Triumphgeheul aus der Küche zu ihr drang. „Jethro?“
„Ich habe ihn gefunden!“
Sie eilten zu ihm, und der Junge stand strahlend an der Tür des unbenutzten Schranks. „Schauen Sie. Kein Wunder, dass er feucht war. Es gibt hier einen Geheimgang an der seitlichen Ziegelwand.“ Der Gang musste von hier direkt zu der Stelle führen, wo die Regentonne stand. „Deswegen wollte Sir Lewis auch keinen anderen Handwerker kommen lassen, Miss Hester.“ Er schob die Tür zu, sodass die Wand im Schrank wieder aussah wie eine ganz normale Ziegelwand. „Uns wäre das nie aufgefallen, aber wenn jemand genau hingesehen hätte, der sich damit auskennt, hätte er den Geheimgang bestimmt entdeckt.“
Hester nickte. „Und der Arbeiter, den er schickte, erklärte natürlich, dass alles in Ordnung sei. Lass alles, wie es ist, Jethro. Wir wollen die Nugents nicht vorwarnen.
Noch sollen sie sich in Sicherheit wähnen.“
„Miss Lattimer? Die Tür stand offen. Ich habe geklopft, doch keiner schien mich zu hören.“ Es war Guy.
Hester ging eher schnell als anmutig auf ihn zu und ergriff seine Hand. Jedes Unbehagen war vergessen, jetzt da sie seine warme, starke Hand fühlte.
„Wir haben den Geheimgang gefunden! Kommen Sie. Ich bin so froh, dass Sie wieder da sind.“
Er drückte ihre Hand und sah ihr tief in die Augen. „Ich auch.“ Hester vergaß alles um sich herum. Marias und Susans Stimmen schienen wie aus weiter Ferne zu kommen.
Für sie gab es nur Guy – die Wärme in seinen Augen und das zärtliche Lächeln um seine Mundwinkel.
Doch plötzlich kam sie wieder zu sich und blinzelte verwirrt. „Jethro hat die Tür gefunden. Schauen Sie.“
Guy untersuchte die kunstvoll in die Wand eingelassene Tür und nickte. „Wie ich es mir dachte. Dieser Gang muss schon beim Bau des Hauses angelegt worden sein, nicht erst später hinzugefügt.“
„Also ist er Teil desselben Geheimnisses wie der Schatz?“, überlegte Hester. Die anderen hatten die Küche verlassen, wahrscheinlich um sich ihre schmutzigen Hände und Gesichter zu waschen. „Ach, was ich Ihnen noch nicht gesagt habe – Miss Nugent ist unser Gespenst. Ich habe gestern ihr verfärbtes Kinn gesehen.“
„Wirklich?“ Guy runzelte betroffen die Stirn. „Ich habe noch nie eine Frau geschlagen und kann nicht behaupten, dass es mir Vergnügen bereitet, was immer sie im Schilde geführt hat. Was den Schatz angeht, könnte es ja sein, dass sie einen Hinweis falsch ausgelegt haben. Vielleicht schaue ich mir besser diesen Kasten an, den Sie bei Sir Lewis gesehen haben.“ Guy lehnte sich an den Küchentisch und sah sich behaglich um. „Das hier ist ein Heim, Hester, kein Räuberversteck. Es ist warm und einladend.
Ein Haus, in das ein Mann gerne heimkehrt, um sich zu entspannen, neben dem Kaminfeuer zu sitzen und die Gesellschaft seiner Frau zu genießen.“
Sein Blick ruhte auf Hester, während er sprach, und sie begann zu lächeln. Sie konnte sich vorstellen, wie sie hier mit Guy vor dem Kamin saß, oder in ihrem Schlafgemach auf dem Sofa, und ihm die Hand hinhielt. Sie würde ihn zu sich herabziehen, während draußen der Schnee gegen die Fensterscheiben wirbelte und ...
„Was ist, Hester?“, fragte Guy lächelnd.
Sie musste ihn erstaunt angesehen haben, da er hinzufügte: „Sie haben mich so eindringlich ins Auge gefasst. Habe ich einen Schmutzfleck im Gesicht?“
„Nein, nein ... ich war in Gedanken versunken.“
„Nun, Sie aber schon ... Sie haben einen Schmutzfleck im Gesicht, meine
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