02 - komplett
ich in die Stadt fahren muss.“
„Ein Freund?“ Clayton bemühte sich, die Nachfrage beiläufig klingen zu lassen. Er schlenderte zu der Anrichte und betrachtete die Karaffen, die dort aufgereiht waren.
„Möchten Sie einen Sherry?“, fragte er, während er darauf wartete, dass sie mehr über den Gentleman verriet, der ihr so großzügig aushalf.
„Nein, danke. Ich glaube, ich habe gestern ein wenig über die Stränge geschlagen.
Jedenfalls bin ich heute Morgen mit Kopfschmerzen erwacht“, erklärte Ruth.
Clayton musste lächeln, aber er sah nicht auf, sondern hielt den Blick auf den Cognac gerichtet, der bernsteinfarben in sein Glas floss. „Ich nehme an, dass Sie eher selten über die Stränge schlagen.“
Sein amüsierter Tonfall missfiel Ruth. Wollte er etwa andeuten, sie sei prüde und gehemmt? „Jedenfalls trinke ich selten Alkohol“, gab sie betont beiläufig zurück.
„Und vermutlich geben Sie sich auch keinem anderen Laster hin.“ Damit wandte er sich wieder zu ihr um und nippte an seinem Glas.
Er schien sie also tatsächlich für prüde zu halten! Sosehr Ruth auch nach einer passenden Entgegnung suchte, ihr wollte keine einfallen. Die Lippen fest aufeinandergepresst, trat sie an den Kamin und wärmte sich die Hände an der Glut.
„Wollten Sie mir nicht eben erzählen, welcher Ihrer Freunde nun der glückliche Besitzer Ihres Ponys ist?“
Ruth warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Natürlich wusste Sir Clayton sehr gut, dass sie keineswegs vorgehabt hatte, ihm einen Namen zu nennen. Aber er schien Gefallen daran zu finden, sie herauszufordern. Andererseits: Was schadete es, wenn sie ihm erzählte, an wen sie Pferd und Wagen verkauft hatte?
„Pfarrer Greene hat die Stute übernommen. Er wohnt gleich in der Nachbarschaft.“
Clayton hob den Cognacschwenker und musterte seine Gesprächspartnerin über den Glasrand hinweg. Handelte es sich bei Pfarrer Greene um den Mann, der Ruth Hayden einen Heiratsantrag gemacht hatte? Ob sie gar seine Geliebte war? Das würde erklären, weshalb er ihr Pferd und Wagen zur Verfügung stellte. Verglichen mit dem, was er selbst seinen Mätressen zu bieten pflegte, wirkte die Geste allerdings eher lachhaft bescheiden. Loretta beispielsweise hatte sich im Hyde Park häufig in einer seiner neuen Chaisen mit einem Gespann lebhafter Grauer bewundern lassen.
Aber Ruth Hayden war nicht die Frau, die sich von Rang und Reichtum blenden ließ.
Das hatte sie ihm gestern unzweifelhaft zu verstehen gegeben.
„Wenn Pfarrer Greene Ihr Nachbar ist, dann sind Sie vermutlich auch mit seiner Frau befreundet“, bemerkte er betont beiläufig.
„Was verleitet Sie zu dieser Annahme?“
„In London scheinen die Damen ständig Tee zu trinken oder miteinander Einkäufe zu erledigen“, erklärte er glatt. „Ich nehme an, dass es sich auf dem Land nicht wesentlich anders verhält.“
„Der Pfarrer ist Witwer.“ Ruth sah Sir Clayton nachdenklich an. Warum interessierte er sich so sehr für den Pfarrer? Aber vielleicht suchte er auch nur krampfhaft nach einem Thema, das genügend Gesprächsstoff bot, bis ihre Gastgeber sich zu ihnen gesellten. Ruth beschloss, zu Sir Claytons Gunsten von Letzterem auszugehen.
„Pfarrer Greene hat seine Frau schon vor vielen Jahren verloren. Seine Tochter, die ungefähr so alt ist wie ich, führt ihm den Haushalt.“
„Ach ... dann sind Sie also mit ihr befreundet.“
„Wir sind lediglich gute Bekannte.“ Damit wandte Ruth sich ab. Nichts würde sie dazu bewegen, ihm zu offenbaren, dass Verity Greene ihr die kalte Schulter zeigte.
Genau wie die meisten Dorfbewohner nahm sie Anstoß an den Todesumständen von Paul Hayden, ihrem Mann.
Es war lange her, dass Paul vor einem Kriegsgericht als Deserteur verurteilt und erschossen worden war. Doch Ruth hatte lernen müssen, dass kleingeistige Menschen ein Urteil, das sie einmal gefällt hatten, nicht so schnell revidierten. Wann immer dem Dorfklatsch die Neuigkeiten ausgingen, wurde die Geschichte von Captain Paul Haydens Feigheit hervorgeholt und von Neuem breitgetreten. Oh, wie unrecht sie alle hatten!
Wieder einmal empfand Ruth tiefe Dankbarkeit, dass Pfarrer Greene ihr nachbarschaftliche Freundlichkeit erwies, anders als seine Tochter und die anderen Damen des Dorfes. Auch Sarah hatte erfahren müssen, dass man in dieser ländlichen Gegend vergeblich auf weibliche Solidarität hoffte. Zuwendung und Unterstützung erfuhren Frauen am Rande der Gesellschaft viel eher von den
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