02 - komplett
verführen. Zum Glück hatte ihn der Gang durch die kalten Flure wieder zur Besinnung gebracht, und es war ihm gelungen, an Mrs. Haydens Zimmertür vorüberzugehen, ohne stehen zu bleiben.
Stattdessen hatte er sich zum Herrenzimmer begeben, wo er noch ein warmes Kaminfeuer und etliche Karaffen Brandy vorfand. Um drei hatten Alkohol und Tabak seine Unruhe endlich so weit betäubt, dass er ins Bett zurückgekehrt und bis zum Morgengrauen in unruhigen Schlaf gefallen war. Nach dem Erwachen war er ausgeritten, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und diese Frau zu legen.
Sein Lächeln schwand, als er sein Gästezimmer betrat und dabei noch einmal das kurze Gespräch von vorhin Revue passieren ließ. Ruth Hayden hatte von dringenden Angelegenheiten gesprochen, die zu Hause auf sie warteten. Ihm kam der Verdacht, sie könnte damit ihren Verehrer gemeint haben, nach dem sie sich sehnte. Auch er selbst hatte dringende Angelegenheiten zu erledigen, aber der Gedanke an Loretta erfüllte ihn keineswegs mit Sehnsucht. Dennoch – er musste seine ehemalige Geliebte noch einmal treffen, um ihr deutlich zu machen, dass ihre Rolle in seinem Leben ausgespielt war.
7. KAPITEL
„Guten Abend, Sir Clayton.“
„Guten Abend, Mrs. Hayden.“
Ruth ließ den Blick durch das Speisezimmer schweifen, das sie soeben betreten hatte. Aber außer ihr war nur Sir Clayton anwesend. Offensichtlich verspäteten sich ihre Gastgeber zum Dinner, genau wie am Vortag. Doch diesmal bezweifelte Ruth, dass die Gründe dafür amouröser Natur waren: Beim Hinuntergehen hatte sie den kleinen James schreien gehört. Der Ärmste schien zu zahnen, und bestimmt war Sarah bei ihm geblieben, um ihn in den Schlaf zu wiegen. Gavin wiederum beruhigte möglicherweise seine besorgte Gattin.
Ruth unterdrückte einen Seufzer. Nun sah sie sich abermals allein mit diesem Mann, der es wie kein anderer fertig brachte, sie aus der Ruhe zu bringen. Und dabei hatte sie, nachdem der Gong zum Dinner erklungen war, noch volle zehn Minuten in ihrem Zimmer abgewartet, um nur ja nicht vor ihren Gastgebern zu erscheinen!
Äußerlich gefasst, trat sie näher, während sie aus den Augenwinkeln Sir Clayton in seinem makellosen Abendanzug betrachtete. Er stand am Kamin, eine Hand lässig auf den Sims gelegt. Heute trug er einen dunkelgrauen Rock, dessen ausgezeichneter Sitz einen teuren Schneider verriet. Das Krawattentuch hatte er zu einem kompliziert aussehenden Knoten geschlungen, zwischen dessen Falten ein schlicht gefasster, aber exquisiter Saphir hervorblitzte.
Einen Augenblick lang empfand Ruth pure Freude darüber, einen so gut aussehenden und eleganten Gentleman ganz für sich allein zu haben. Aber sie rief sich schnell wieder zur Ordnung. Gestern hatte sie schließlich die unangenehmen Seiten seines Charakters nur zu deutlich zu spüren bekommen. Über die Arroganz dieses Mannes konnten weder sein gutes Aussehen noch sein geschliffener Charme hinwegtäuschen.
Unwillkürlich strich sie sich über das silbergraue Kleid. Neben diesem eleganten Gentleman kam sie sich auf einmal schäbig vor, und sie wünschte, sie hätte am Nachmittag nicht Sarahs Angebot abgelehnt, eine ihrer Roben zu leihen.
Schon früher hatte sie gelegentlich Sarahs Kleider aufgetragen. Obwohl Ruth es hasste, Almosen annehmen zu müssen, empfand sie es bei Sarah nicht als kränkend.
Die Freundin wusste schließlich selbst nur zu gut, was es bedeutete, jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen.
Trotzdem hatte sie heute den Vorschlag abgelehnt, sich eines von Sarahs eleganten Kleidern auszuleihen – und nun wusste sie auch, weshalb: Sie hatte nicht den Eindruck erwecken wollen, sie mache sich für diesen Mann schön.
„Sie sind heute Morgen auf einem sehr lebhaften Pferd ausgeritten.“
„Haben Sie einen Stallburschen, der sich zu Hause um Ihr Pony kümmert?“
Sie hatten beide gleichzeitig angefangen zu sprechen, genau wie am Vortag, als sie sich auf der Treppe begegnet waren. Verlegen hielten sie inne und lächelten sich entschuldigend an. Ruth bedeutete ihm mit einer Geste fortzufahren.
„Ich wollte mich nach Ihrem Pony erkundigen. Als wir uns zum ersten Mal in Willowdene begegnet sind, haben Sie einen Ponywagen kutschiert. Gibt es jemanden, der sich um das Pferd kümmert, während Sie hier weilen?“
„Die Stute gehört leider nicht mehr mir“, antwortete Ruth bedauernd. „Ich habe sie einem Freund überlassen. Zum Glück ist er so freundlich, mir Pferd und Wagen zu leihen, wenn
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