02 - komplett
Augenblick lang in längst vergangene Zeiten zurückversetzt fühlte. Mit leichtem Bedauern kehrte sie in die Gegenwart zurück.
„Aber ich bitte dich, mein damaliges Benehmen nicht deinen Gästen zu verraten. Sie müssen mich sonst für einen unverbesserlichen Wildfang halten.“ Sie sagte es lächelnd, aber insgeheim dachte sie daran, dass jugendliches Äpfelklauen keineswegs der größte Skandal in ihrer Vergangenheit war. Wer von den hier Anwesenden mochte davon wissen? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.
Zumindest Keith musste von der standrechtlichen Hinrichtung ihres Mannes gehört haben.
„Es tat mir so leid zu hören, dass dein Mann gestorben ist“, sagte Keith leise, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Und wenn ich mich recht erinnere, ist dein Vetter Jake ebenfalls aus dem Krieg nicht mehr nach Hause gekommen. Sind seine Eltern nicht danach auf den Kontinent umgezogen, um in der Nähe seines Grabes wohnen zu können?“
Ruth nickte zurückhaltend. „Es waren harte Zeiten ... für viele Menschen ... und aus verschiedenen Gründen ... Du hast ein sehr schönes Haus.“ Bevor die Tränen ihr die Kehle zuschnüren konnte, wechselte sie lieber das Thema. „Du bist weit gekommen, seit du die Willoughby Road verlassen und geheiratet hast.“ Sie brach ab, weil ihre Bemerkung ihr auf einmal taktlos vorkam.
Auf dem Weg hierher hatte Gavin ihr und Sarah ein wenig über die Gastgeber erzählt. Keith Storey hatte Susannah Vincent geheiratet, eine reiche Erbin und Tochter eines Barons. Für ihn hatte die Ehe gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet, und das Paar war in der Londoner Gesellschaft beliebt und geachtet.
„Das ... ich wollte damit nicht sagen ...“ Verlegen hob Ruth eine Hand an ihre heiße Wange.
„Ich bin wirklich weit gekommen, und ich wäre der Letzte, das leugnen zu wollen, Ruth. Jeden Tag danke ich dem Schicksal dafür, mir Susannah gegeben zu haben. Sie hat mir nicht nur großen Wohlstand beschert, sondern vor allem großes Glück.
Natürlich würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass wir in der bescheidensten Hütte genauso zufrieden wären wie in diesem schönen Haus. Das wäre Heuchelei. Aber meine Frau ist einfach reizend, und ich liebe sie von ganzem Herzen.“
„Dann bist du wirklich ein Glückskind“, ging Ruth auf seinen leichten Tonfall ein.
„Darf ich dir Susannah vorstellen? Ich glaube, sie hält sich gerade im Musikzimmer auf.“ Auf ihr Nicken hin bot er Ruth den Arm und führte sie nach nebenan. „Ich glaube, wir haben gemeinsame Bekannte“, bemerkte er auf dem Weg.
Fragend sah Ruth zu ihm hoch.
„Sir Clayton Powell“, erklärte er. „Ich habe ihn kürzlich getroffen, und er erzählte, er hätte dich bei den Tremaynes kennengelernt.“
Bei der bloßen Erwähnung dieses Namens erschauerte Ruth. „Ich ... nun ... ja, wir sind beide sehr gut mit den Tremaynes befreundet und waren kürzlich gleichzeitig auf Willowdene Manor zu Gast. Eigentlich wohne ich gleich in der Nachbarschaft, aber schwere Schneefälle haben mich tagelang daran gehindert, nach Hause zurückzukehren.“ Nach einer kaum merklichen Pause fragte Ruth beiläufig: „Weißt du, wo er sich gerade aufhält?“
„Sir Clayton? Soweit ich weiß, sucht er immer noch nach Pomfrey, um diesem Tölpel ins Gewissen zu reden.“ Keith räusperte sich verlegen. Normalerweise sprach man nicht in Gegenwart von Damen von Duellen, schon gar nicht, wenn eine Kurtisane hinter dem Ehrenhandel steckte. „Ach, da ist sie schon“, äußerte er erleichtert, als er in diesem Augenblick seine Angetraute erblickte. Stolz stellte er die Damen einander vor.
Susannah Storey war eine hübsche, zierliche Frau mit roten Haaren, die Ruth warmherzig willkommen hieß. Als Keith ihr lang und breit von den Kindheitsstreichen erzählte, die er mit Ruth erlebt hatte, schien sie ehrlich interessiert. Ein amüsiertes Funkeln erschien in ihren Augen, als sie von den Äpfeln des Pfarrers hörte.
„Wir hatten in York auch einen riesigen Apfelbaum“, erzählte sie. „Als Kinder haben wir an den Ästen geschaukelt, und meine Mutter sagt, dass der Baum heute noch genauso ...“ Ein Ausdruck von Überraschung erschien auf Susannahs Gesicht, um nur Momente später unverhohlenem Ärger zu weichen.
Keith folgte ihrem Blick und erstarrte dann ebenfalls wie vom Donner gerührt.
„Was zum ...“ Hastig schluckte er den Rest des Fluches hinunter.
„Es tut mir wirklich leid, Mrs. Hayden“, sagte Susannah mit einem
Weitere Kostenlose Bücher