02 - komplett
entschuldigenden Blick. „Vermutlich halten Sie uns für sehr merkwürdige Gastgeber, dass wir das Gespräch plötzlich mittendrin abbrechen. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass Lord Graves sich untersteht, diese ... diese entsetzliche Person hierher zu bringen.
Und das nach allem, was sie angerichtet hat!“
„Diese Dame war nicht eingeladen“, ergänzte Keith grimmig.
„Natürlich nicht!“ Seine Frau sprach leise, aber die Empörung war ihr trotzdem deutlich anzuhören. „Lady Vane hat diesen törichten Greis bezirzt, sie mitzunehmen.“
„Bestimmt wollte er uns nicht ärgern“, versuchte Keith sie zu beruhigen. „Du weißt, dass Graves in jedem Menschen nur das Gute sieht.“
Unterdessen warf Ruth verstohlene Blicke auf die Neuankömmlinge. Das also war Claytons Geliebte, die Frau, die ihn unbedingt heiraten wollte und dafür ein Duell in Kauf nahm.
Ruth bemerkte bald, dass sie keineswegs die Einzige war, deren Aufmerksamkeit von dem ungleichen Paar gefesselt wurde. Gemurmel hob im Saal an, und die Gäste warfen entsetzte Blicke zum Eingang.
Lady Vane mochte schamlos und intrigant sein, aber sie war auch ausnehmend schön. Das rabenschwarze Haar hatte sie kunstvoll aufgesteckt. Unter dem beinahe durchscheinenden Stoff ihrer Abendrobe ließen sich lange, schlanke Glieder erahnen, und das tiefe Dekolleté betonte üppige weibliche Formen.
„Ich werde sofort ein Wörtchen mit Graves reden“, kündigte Keith an. „Wenigstens hätte diese unmögliche Person den Anstand besitzen können, sich angemessen zu kleiden.“
Doch Susannah legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nein, bleib. Ich vermute, dass das genau die Art von Aufsehen erregen würde, die sie sich wünscht. Lady Vane soll mir diesen Abend nicht verderben. Beachte sie einfach gar nicht. Wenn sie spürt, dass sie hier nicht willkommen ist, geht sie vielleicht von selbst.“
Im gleichen Moment hob Loretta Vane das Kinn und verzog die geschminkten Lippen zu einem hochmütigen Lächeln. Ruth erkannte, dass Mrs. Storey recht hatte: Die skandalumwitterte Lady Vane schien tatsächlich darauf aus zu sein, im Mittelpunkt zu stehen. Als etliche der Anwesenden es den Gastgebern gleichtaten und ihr den Rücken kehrten, ging eine kaum merkliche Veränderung in ihrer Miene vor: Ärger verlieh ihrem Lächeln etwas Gezwungenes.
Mr. und Mrs. Storey taten so, als hätten sie Lady Vane gar nicht bemerkt, und baten ihre Gäste, Platz zu nehmen. Keith führte Ruth zu einem Stuhl und entschuldigte sich dann, um seinen Gastgeberpflichten nachzukommen. Kurz darauf setzte Sarah sich neben Ruth und flüsterte ihr aufgeregt zu: „Hast du dieses Biest gesehen? Was für eine Schamlosigkeit, hier einfach uneingeladen aufzutauchen! Und das auch noch zu einer Zeit, in der sie mit ihren Intrigen zum Mittelpunkt des Klatsches geworden ist.“
Ruth musste lächeln. „Sie ist sehr wagemutig ... und sehr hübsch.“
„Ach was, Puder und Schminke“, gab Sarah abfällig zurück. „Deine Schönheit kommt ganz ohne Tricks und Kniffe aus.“
„Danke.“
„Bitteschön, gern geschehen.“
Allmählich verstummten die Gespräche. Während die ersten Töne einer Bratsche erklangen, sah Ruth an ihrem kostbaren Kleid hinab und strich über den hellblauen Seidenstoff. Heute Abend fühlte sie sich schön, und selbst in Gavins Augen hatte sie Bewunderung aufleuchten sehen.
Noch vor wenigen Wochen, als Sarah sie zum ersten Mal gebeten hatte, nach London mitzukommen, hatte sie vor dem Gedanken zurückgescheut. Sie wollte sich die notwendigen Kleider für den Besuch nicht von Sarah schenken lassen. Diese Hemmungen verflogen augenblicklich, als sie von Claytons Schwierigkeiten hörte.
Angesichts der Gefahr für Leib und Leben, in der er schwebte, schien es geradezu lächerlich, mit ihrer besten und liebsten Freundin über solche Kleinigkeiten zu diskutieren. Alles, was sie wollte, war, nach London zu fahren und sich davon zu überzeugen, dass Clayton in Sicherheit war.
So kam es, dass sie am Lansdowne Crescent mit mehreren Reisetaschen eintraf, in denen sich Roben mit Spitzenbesatz, Musselinkleider, Satinschuhe und Seidenstrümpfe befanden.
Ruth neigte den Kopf leicht zur Seite, um der sehnsuchtsvollen Melodie des Streichquartetts zu lauschen. Dabei warf sie einen Blick auf Sarahs Profil, und sofort stieg ein Gefühl wärmster Zuneigung in ihr auf. Als hätte sie es gespürt, legte die Freundin ihr kurz die Hand auf die Finger und drückte sie.
„Mit dieser Narrheit hat
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