02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
die beste Idee der Welt wäre, sie jetzt in einen Vampir zu verwandeln.
Silvers geistesabwesendes Gesicht und seine angespannten Muskeln hatten Annie ebenso viel mitgeteilt wie seine wehmütig klingende Stimme. Er liebte Dante und sehnte sich nach ihm. Sie wusste, dass sie ihn nicht dazu überreden konnte, ihr den Wunsch zu erfüllen. Jedenfalls nicht in der Zeit, die noch blieb, ehe die Band zum Flughafen aufbrach.
Annie hatte also beschlossen zu verschwinden, wenn sie schon nicht fliegen oder zur Vampirin werden konnte. Sie wollte sich blindlings besaufen. Jetzt brauchte sie nur noch ein Bier oder zwölf.
Heather würde sich außerdem wahnsinnig ärgern, wenn sie feststellte, dass ihre Schwester vor ihrer Flucht noch ein paar Dinge aus Dantes Tasche hatte mitgehen lassen.
Annie lachte. Ihr Lachen klang genauso fragil, wie sie sich fühlte. Wenn sie jetzt stolperte und auf den Bürgersteig knallte, würde sie dann in tausend Stücke zerbrechen? Wie der gute alte Humpty-Dumpty? Sie holte tief Luft, was sie sogleich wieder bedauerte, denn der aromatische Duft nach Curry und Würstchen brachte ihren empfindlichen Magen dazu, sich zu verkrampfen.
Reifen rollten zischend auf der nassen Straße vorbei. Scheinwerfer tauchten die feuchte Oberfläche in ein Band aus blauweißem Licht. Zwei Scheinwerfer, die so grell wie eine Supernova schienen, blendeten sie. Sie hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Das Auto – ein großer, rumpelnder Pick-up – hielt neben ihr. Sie ging zur Beifahrertür, die sich sogleich öffnete.
Der charmante junge Mann mit den blonden Locken, den Heather in ihrem Wohnzimmer befragt hatte, lehnte sich zu ihr herüber. Ein warmes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«, fragte er. Da eine winzige Stimme in ihrem Inneren laut »Nein« rief, stieg Annie ein und schlug mit pochendem Herzen die Tür zu.
33
ES WIRD NACHT
Seattle, Washington · 24. März
Bäh-bäh-bäh! Ich bin unterwegs und habe Spaß! Hinterlass eine beschissene Nachricht! Oder auch nicht!
Heather machte sich nicht die Mühe, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Sie legte auf und warf ihr Mobiltelefon frustriert auf das ungemachte Bett. »Scheiße!« Sie war ziemlich sicher, dass sich Annie aus dem Staub gemacht hatte, weil sie Lyons’ Bemerkung über ihren Vater gehört hatte.
Sie weiß nicht, dass ich Dad die Schuld gebe, nicht ihr.
Aber das war nicht mal das Schlimmste. Annie hatte Dantes Reisetasche durchwühlt, ehe sie aus dem Fenster geklettert war, und hatte seinen iPod, zwei Shirts, eine Flasche Absinth und sein Song-Tagebuch mitgehen lassen.
»Scheiße, sie kann das ganze andere Zeug behalten. Das Einzige, was mir etwas bedeutet, ist das Tagebuch«, hatte Dante erklärt und dann die Achseln gezuckt. Für ihn schien das nicht schlimm zu sein. Zumindest tat er so. Doch Heather konnte in seiner Stimme hören, wie wichtig ihm das Tagebuch war.
Irgendwie hatte sie das Gefühl, als hätte Annie instinktiv genau gewusst, wie sie Dante am meisten verletzen konnte. Vielleicht, weil auch sie Musikerin war. Heather war sich nicht
sicher, warum Annie Dante verletzen wollte – vielleicht, um herauszufinden, ob sie es konnte, oder vielleicht auch, weil sie ihn mochte. Vielleicht ging es aber auch nicht um Dante, sondern um Heather.
Vielleicht war es auch eine Mischung aus alldem.
Heather mochte in der Lage sein, die Identität eines Mörders aufzuspüren, seine Motive zu entschlüsseln und manchmal sogar seinen nächsten Zug vorherzusagen. Aber ihre kleine Schwester verstand sie nicht, ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte.
Heather ließ sich aufs Bett fallen und rieb sich das Gesicht. Sie war sauer und todmüde. Annie konnte überall sein, mit irgendjemandem, und was auch immer tun. Doch die Zeit wurde immer knapper. Für sie, für Dante, für Annie. Heather weigerte sich, ihre Schwester zurückzulassen, da sie sicher war, dass ihr Vater sie prompt wieder für seine eigenen Zwecke benutzen würde.
Die Schattenabteilung existiert. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter.
Dr. Robert Wells …
Obwohl Dante nichts gesagt hatte, wusste sie, dass ihn Lyons’ Worte – Jede Minute, die Sie meinen Vater am Leben lassen, wird ihr Gerechtigkeit versagt – tief getroffen hatten. Er wollte sich Dr. Wells vorknöpfen, und sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Doch es war unmöglich. Wie sollte er an den Mann herankommen, wenn er sich nicht einmal seinen Namen merken konnte?
Dante
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