02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
»Genau.«
Es blieben ihr fünf Stunden, um nach Seattle zurückzufahren, und obwohl das reichen sollte, Lyons am Parkplatz vor dem Gebäude der Dienststelle Portland abzusetzen, konnte sie nun ihren Überraschungsbesuch bei Annie in der Klinik knicken, den sie eigentlich geplant hatte. Es war nicht einmal mehr genug Zeit, um noch kurz bei sich zu Hause vorbeizufahren und von ihren Jeans in ein formelleres Outfit aus Bluse und Hose zu schlüpfen.
Vielleicht war das auch nicht nötig. Stellen Sie sich darauf ein, dass es noch einmal eine Nachbesprechung geben könnte.
Der Frosch in ihrem Hals wurde größer. Eventuell hatte man von ihr und Dante erfahren. Wenn das der Fall war, hatte
sie ihnen genug Gründe geliefert, sie – die Heldin der letzten Wochen – zu feuern und außerdem die Möglichkeit, noch eine tragische Gestalt wie die Pathologin aus Pensacola zu schaffen. Noch einen Freitod in der Badewanne. Möglicherweise würde sie auch das Opfer eines Autounfalls oder eines schiefgelaufenen Raubüberfalls werden.
Heather holte tief Atem und sog dabei das Aroma von Drakkar Noir ein. Reiß dich zusammen, Wallace. Wenn die Leute am Drücker sie tot gewollt hätten, hätten sie nicht darauf gewartet, dass man sie feuerte. Dann wäre sie schon lange im Leichenschauhaus.
Vielleicht steckte ihr Vater ja hinter der plötzlichen Aktualisierungsnachfrage. Vielleicht hatte er davon Wind bekommen, dass sie den alten Fall wieder aufrollen wollte.
»Kann ich Sie um einen Gefallen bitten?«, fragte sie.
»Schießen Sie los.«
»Mein Vater ist James Wallace …«
»James William Wallace? Der furchtlose Leiter des Labors an der Westküste?«
»Genau der.«
Lyons stieß einen Pfiff aus.
»Sollte er Sie kontaktieren und fragen, wie ich in diesem Fall vorankomme, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihn im Dunklen tappen ließen.«
Heather sah Lyons an. Etwas leuchtete in seinen grünen Augen auf – eine Art Verbindung, ein Verstehen. Er nickte. »Kann ich machen. Ich lasse Ihren alten Herrn im Dunklen tappen.«
»Danke«, antwortete sie und atmete erleichtert auf. Sie war froh, dass er den Grund für ihre Bitte nicht wissen wollte. »Ich weiß das zu schätzen.«
»Kein Problem.«
James William Wallace hatte Heather die letzten zwanzig Jahre über im Dunklen tappen lassen – darüber, wie ihre Mutter
gestorben war und wie sie gelebt hatte, ebenso wie über Annies Krankheit. Jedes Körnchen Wahrheit hatte sie selbst ausgraben und mühsam von den Lügen und Dementi befreien müssen, mit denen er alles zu verbergen suchte. Jetzt war es an der Zeit, ihm endlich zu zeigen, wie sich so etwas anfühlte.
5
DEN AST ABSÄGEN
Seattle, Washington – FBI-Außenstelle · 22. März
Heather wusste, ihr Leben hing davon ab, wie sie die Frage beantworten würde, die ihr Monica Rutgers, die stellvertretende Dienststellenleiterin, gerade gestellt hatte. Wenn sie Ja sagte, wäre sie für das FBI kaum mehr als eine Marionette – wenn auch eine gut bezahlte, lebende Marionette. Wenn sie Nein sagte, würde man einen Weg finden, ihr die Wahrheit aus dem Gedächtnis zu streichen, und dann würde sie auf die eine oder andere Weise sterben.
»Jetzt bin ich ehrlich verblüfft«, sagte Heather und schaffte es, ihre Lippen zu einem Lächeln zu zwingen, »und fühle mich geehrt. Aber eine so bedeutende Entscheidung kann ich natürlich nicht einfach so treffen. Das werden Sie sicher begreifen.«
»Natürlich«, antwortete Monica Rutgers vom Großbildschirm aus, der an der nach Westen blickenden Wand hing. Ergrauende Locken rahmten ihr stoisch wirkendes Gesicht ein, das Jahrzehnte der Täuschungen und Listen ziemlich verwittert hatten. »Wie wäre es mit Montag? Das lässt Ihnen vier Tage Zeit, es sich zu überlegen.«
»Montag klingt gut, Ma’am«, entgegnete Heather.
Sie saß in einem der beiden Sessel vor dem Eichenschreibtisch, der einmal zu Stearns’ Büro gehört hatte. Seine kraftvolle Energie schien den Raum noch immer zu erfüllen. Manchmal
glaubte Heather, ihn plötzlich aus dem Augenwinkel zu sehen – hinter seinem Schreibtisch, vor dem regenüberströmten Fenster zur Straße hinaus. Sie glaubte, Kaffee und seine Tabletten gegen Sodbrennen riechen zu können.
»Wir glauben, Sie haben Ihren Mut und Ihre Fähigkeiten mehr als unter Beweis gestellt«, erläuterte Alberto Rodriguez, der hinter Stearns’ Schreibtisch saß.
»Danke, Sir«, sagte Heather. Sie warf einen Blick auf ihren derzeitigen Boss und schenkte ihm ein, wie
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