02 - Schatten-Götter
Sie grub ihrem Tier die Hacken in die Flanken. Ihr gelang mit fünf anderen die Flucht, während der Rest der Vorhut in ein kurzes, brutales Scharmützel verwickelt wurde, bei dem zwei Speerträger und zwei Bogenschützen niedergemetzelt wurden. Nerek sah sich um und erblickte zwei Töchter des Vater-Baumes, die nicht weit von dem Gemetzel ihre Pferde zügelten. Ruhig spannten sie ihre Bögen, als die feindlichen Reiter sich gerade auf sie stürzen wollten.
Die Kampfgeräusche weiter vorn auf der Straße wurden lauter, und Nerek wendete ihr Pferd. Sie wollte nicht in die Zange von zwei feindlichen Einheiten geraten. Die Maskierten galoppierten auf die beiden Bogenschützinnen zu. Es waren dunkle Gestalten, deren Umrisse sich gegen den Schein der Feuer abhoben. Im nächsten Moment jedoch kündigte Hufgedonner die Ankunft von Chaugor und dem Rest der Ritter an. Sie fegten in vollem Galopp heran, ihre Pelze und Umhänge wehten hinter ihnen, und ihre Pferde stießen weiße Atemwolken aus. Nerek sah das alles trotz der Dunkelheit, weil eine merkwürdige Veränderung mit ihrem Körper vorging, ein Kribbeln der Macht, das sie vom Hals bis zu den Lenden durchrieselte, von den Fingerspitzen bis zu ihrer Zunge, und ihre Augen und Ohren liebkoste. Es war die zähe, verlockende Macht des Brunn-Quell. Sie sah, dass Byrnak und der Mazaret-Schatten ihre Reiter langsamer galoppieren ließen, und dass
er
sie in der Dunkelheit anstarrte. Er lächelte und seine Lippen bewegten sich …
Komm zu uns, Nerek … es wartet ein besonderer Platz an der Seite unseres Gebieters auf dich …fühlst du wieder die Macht des Brunn-Quell? Er empfindet so viel Achtung für dich, dass er deine Barrieren entfernt hat… Warum verlässt du diese Elenden nicht und kehrst zu uns zurück? Komm zu uns zurück …
Das Band wurde schwächer, und als die Ritter mit gezückten Schwertern heranritten, wendeten die Maskierten ihre Pferde und verschwanden im Wald. Chaugor war vorsichtig und widerstand der Versuchung, sie zu verfolgen. Statt dessen sammelte er seine Männer um sich und postierte die Fackelträger am Rand der Kolonne, während er wartete, bis die überlebenden Kundschafter zu ihnen stießen. Nerek trieb ihr Pferd in einen Trab, aber in ihrem Kopf wirbelten ihre Gedanken verwirrt umher, während ihre Sinne noch unter dem Strömen der Macht bebten.
Es war nicht Byrnak gewesen, das hatte sie begriffen, sondern sein Lieblingskriegsherr Azurech, den Mazaret gejagt hatte. Bardow und Atroc hatten ihn erwähnt…
Plötzlich fiel ihr auf, dass die weiblichen Bogenschützen von der Straße in den Wald abbogen. Sie rief ihnen hinterher, erntete jedoch nur einen verächtlichen Blick. Der Sergeant näherte sich ihr, ebenso wie Chaugor, der in Begleitung eines Fackelträgers heranritt. Er war wütend, und nachdem er gehört hatte, was passierte, deutete er mit dem Finger auf den Sergeanten, auf Nerek und einen der Speerträger.
»Ihr drei, reitet ihnen nach und überbringt meinen Befehl, sofort zu uns auf die Straße zurückzukehren. Marsch!« Das feuchte Dickicht knackte unter den Hufen ihrer Pferde, und der Schneematsch knirschte leise. Sie waren etwa fünfzig Meter in den Wald hineingeritten, als plötzlich hinter ihnen Schreie und Kampfgeräusche zu hören waren. Nerek sah den Sergeanten an, drehte sich im Sattel herum und schaute auf die von Fackeln erleuchtete Straße. Sie konnte jedoch nur undeutliche Bewegungen erkennen. Als sie sich wieder umdrehte, war das Pferd des Sergeanten zwar noch da, aber der Mann war verschwunden. Die Macht verstärkte ihre Instinkte, und sie duckte sich im Sattel, während sie sich gleichzeitig auf die Seite des Pferdes rutschen ließ. Im selben Moment zischte ein Speer aus der Dunkelheit genau dort durch die Luft, wo sie gerade noch gesessen hatte.
Ein dumpfer Aufprall im Schatten verkündete, dass er in einen Baumstamm gefahren war. Ihr Pferd scheute, ging durch und galoppierte zwischen den Bäumen hindurch. Nerek schwang ihr Bein über seinen Rücken, gab dem Tier einen scharfen Schlag auf den Rist, und ließ sich aus dem Sattel rutschen. Sie rollte sich ab und verharrte in der Hocke, während das Tier durch das spröde, verschneite Unterholz brach. Sie nahm mit Hilfe des Brunn-Quell deutlicher wahr und sah andere Hufspuren, die tiefer in den Wald hineinführten. Sie stammten von den beiden Töchtern des Vater-Baumes, und Nerek konnte auch ihren Duft in der Luft wahrnehmen. Außerdem hörte sie ihre eigenen Verfolger.
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