02 - Schatten-Götter
wieder senkte. An ihrem Ende erwartete ihn eine überraschend breite und geschmückte steinerne Treppe. Er pfiff ein fröhliches Lied und kam nur Minuten später auf der Allutra-Promenade heraus, die breite Durchgangsstraße, die am Hohen Ufer vorbeiführte.
Rechts von ihm befanden sich einige große Häuser auf Grundstücken, die von Zäunen oder Wällen umschlossen waren. Ihre gepflegten Gärten lagen unter einer unberührten Schneedecke im Winterschlaf. Gilly verzog verächtlich die Lippen. Hier sah man keine Spuren der Entbehrungen, unter welchen das gemeine Volk seit dem Einfall der Mogaun litt, kein Anzeichen von Armut oder Not. Links von ihm, jenseits der Pavillons und Lauben überblickte man das Künstlerviertel, den Handwerksbezirk, die verlassenen Werften und den breiten, flachen Olodar. Die Flussglocken waren geschlagen worden, als er noch geritten war, also dürfte Tauric mittlerweile den Tempel der Erden-Mutter in Wybank erreicht und die Blumenkrone überreicht bekommen haben. Besser du als ich, Junge, dachte er.
Als Gilly die dritte Brücke überschritt, kurz vor dem Ende der Allutra-Promenade, wuchsen die Gebäude in die Höhe und rückten enger zusammen. Es waren jetzt gewöhnliche Miethäuser und Geschäfte. Ein paar Seitenstraßen führten weiter bergauf, durch die grüne Blätterpracht des Hohen Ufers, andere dagegen mündeten auf die wackligen Stege, die über einige der niedrigeren Gassen hinwegführten. In diesem Teil des Handwerkbezirks hatten vor allem Tuchmacher ihren Sitz, und die ätzenden Dampfwolken der Färbereien verschleierten den Blick, sodass Gilly die Umrisse nicht genau erkennen konnte, falls sie nicht ganz verborgen waren. Die Gassen schienen vollkommen verlassen zu sein. Plötzlich tauchte aus den nebligen Wolken eine schlanke weibliche Gestalt auf einem der Stege auf, die parallel zur Allutra-Promenade verliefen. Sie hastete in Richtung des Fünfkönigs-Piers weiter. Gilly runzelte die Stirn und verlangsamte unwillkürlich seine Schritte, als er angestrengt zu ihr hinüber starrte. »Nerek?«
Es war ihr zielstrebiger Schritt, und sie trug das Haar ebenso kurzgeschoren … Im nächsten Moment verschwand die Frau in einer Dampfwolke. Gilly zuckte mit den Schultern und wollte weiterlaufen, als eine weitere Gestalt auftauchte. Ein Mann, der ein Schwert in der Hand hielt und ganz offensichtlich die Frau verfolgte, die eben vorüber gelaufen war. Gilly war plötzlich davon überzeugt, dass es sich um Nerek gehandelt hatte. Er machte kehrt und rannte Hals über Kopf ein kurzes Stück die Promenade entlang, bis er an eine Seitengasse kam, die in den Bezirk herabführte. Schneematsch und Schlamm spritzten unter seinen hastigen Schritten auf, die dumpf klangen, als er über eine Holzbrücke lief, die unter seinen Füßen zitterte. Sie führte zu dem Steg, auf dem Nerek eben noch gewesen war. Er rutschte auf den eisigen Planken weg, bog um eine Ecke und stürmte durch die feuchten Dampfwolken.
Über der schmalen Gasse hingen an schlaffen Leinen kleine, verzierte Banner, welche die Namen der Geschäfte und ihrer Inhaber trugen. Auf dem hölzernen Geländer hatte sich Kondenswasser von dem Dampf gebildet, das lautlos auf die Straße hinunter tropfte. Die Bohlen knarrten unter Gillys Füßen, als er mit dem Schwert in der Hand aufmerksam weiter trottete. Das trübe Licht des bewölkten Himmels wurde von dem kalten Nebel gedämpft, der zwischen den Gebäuden hing, und man konnte kaum zehn Meter weit sehen. Plötzlich durchbrach ein strahlender Blitz den blassen Schein, und auf der anderen Straßenseite strahlte ein harter, weißer Glanz auf. Jemand, eine Frau, stieß einen erstickten Schrei aus, und Gilly rannte auf die Kreuzung zu. Aus der entgegengesetzten Richtung liefen auch noch andere Gestalten dorthin, wo, wie Gilly jetzt sah, zwei Leute in einem Torweg miteinander kämpften. Während er lief, sah er, dass die anderen Kinder waren, meistens kleine Jungen, und ihn beschlich ein merkwürdiger Verdacht. Doch das war vergessen, als er sich dem Mann näherte, der Nerek an der Kehle gepackt hielt, während sich helle, zuckende Tentakel aus Licht von seinen Augen in ihre bohrten.
Es zischte, als hätte jemand eine Schlinge geworfen, und Nereks Angreifer schrie wütend auf, als sich ein Netz über ihn legte. Er ignorierte es, als er sich umdrehte und sich den Jungen stellte. Er versetzte dem Nächststehenden einen Schlag mit dem Handrücken, der das Kind gegen das Geländer schleuderte,
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