02 - Schatten-Götter
Trommellärm zu einem gedämpften Rhythmus abgeklungen war, machte sich ein dumpfer Schmerz hinter seinen Augen breit. Er war zwar unterwegs gewesen, um mit dem Zeremonienmeister zu sprechen, aber das würde warten müssen. »Wir müssen sofort zur Staatskammer«, erklärte er. »Ich muss mit Lordregent Yasgur sprechen. Jamek, geht voran!«
»Zu Befehl, Erlauchter Erzmagier.«
Sie drängten sich durch mehrere Schichten von großen Vorhängen und gelangten in eine der vielen Arkaden. Bei anderer Gelegenheit hätte Bardow innegehalten und die Wandbehänge bewundert, die duftenden Gärten mit ihren winzigen Litrilu-Blüten, die Holzschnitzereien aus Cabringa und die Rosenlicht-Lampen, alles Spenden von reichen Händlern und einigen befreiten Städten. Jetzt jedoch trieb er seine Gefährten durch eine Tür zu einem steinernen Treppenhaus, von dem aus man alle Etagen erreichte und einen großartigen Blick über den gesamten Pier hatte.
Auf den Sitzbänken, den langen Emporen und unter den hohen Kuppeln drängten sich die Menschen, während auf beiden Seiten des Piers Lakaien mit Bannern standen oder Taue festhielten, an denen sie von der dämmrigen Decke herunterhingen. Die hohen, schmalen Fenster filterten das blasse Tageslicht, aber auf jeder Etage brannten zahlreiche Fackeln und Lampen, deren goldener Schimmer sich in den Baumsymbolen fing, die mit Blattgold und Silber auf den gigantischen Türen am entfernten Ende des Piers glänzten.
Während Bardow hinaufging, waren seine Gedanken so finster wie das Wasser im Hafen selbst. Dabei warf er zufällig einen Blick über die Brüstung auf die Bürger, welche über den Gang auf der ersten Etage schlenderten. Sein Blick glitt auf den belebten Gang hinter der obersten Bankreihe und richtete sich mit beunruhigender Genauigkeit auf das eine Antlitz in diesem Meer aus Gesichtern, das seine Aufmerksamkeit erregte und hartnäckig festhielt.
Er sah Nerek mit ihrem kurzgeschorenen Haar und in dem üblichen, abgetragenen Lederkoller, nur dass sie entspannter wirkte als gewöhnlich, weniger steif und reserviert. Sie lächelte sogar, schwach und träge, und als sie sich auf ihrem Weg durch die Menge umdrehte, sah Bardow ihr Profil, ihr Kinn, die Form ihres Ohres. Plötzlich wusste er, dass er eine Doppelgängerin vor sich hatte.
Im gleichen Moment erblickte sie offenbar etwas auf der anderen Seite des Piers, und eiskaltes Entsetzen überkam Bardow, als er ihre kalte, unerbittliche Miene sah, während sie das Geländer umklammerte und hinüber starrte. Rasch folgte er ihrem Blick und überflog die Menschen, die auf der ersten und zweiten Etage flanierten … bis er Keren erblickte. Sie stand in einem Durchgang auf der ersten Etage, nickte und sprach mit einer Frau mit einem geblümten Kopftuch. Als Bardow wieder auf die andere Seite schaute, war die falsche Nerek verschwunden. Panik stieg in ihm auf.
»Hinunter!«, rief er den anderen zu, die sich auf der vollen Treppe um ihn geschart hatten. »Wir müssen wieder hinunter…!« »Aber warum denn, Meister Bardow?«, erkundigte sich Fionn. »Was habt Ihr? Ihr seht nicht gut aus.«
»Mach dir lieber Sorgen um Keren«, erwiderte er. »Sie haben ihr einen Meuchelmörder auf den Hals gehetzt! Jamek, bringt uns nach unten zur ersten Etage …«
Und betet, dass wir nicht zu spät kommen.
Doch während sie den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren, läuteten überall die Glocken und Fanfaren schmetterten, als die gewaltigen Tore des Fünfkönigs-Piers sich nach außen öffneten. Tauric war mit der Blumenkrone vom Erden-Muttertempel in Wybank zurückgekehrt. Keren hatte fast das Gefühl, als hätte die Frau mit dem Kopftuch sie mit einem Bann belegt. Sie hatte den Fehler gemacht, auf die Frage der Frau zu antworten, was der Name ›Fünfkönigs-Pier‹ zu bedeuten hatte. Der Damm war nach fünf Schiffen mit herrschaftlichen Namen benannt worden, die einst hier gebaut worden waren. Ihre Freundlichkeit hatte die Schleusen geöffnet. Jetzt quasselte die Frau pausenlos und erging sich in endlosen Klagen und Anekdoten über ihre Familie, die lange Reise nach Besh-Darok, den Zustand der Straßen, den Preis der Lebensmittel und wie rücksichtslos diese Städter wären und …
Plötzlich kam Keren eine Idee.
»Im Namen der Mutter!«, schrie sie und streckte den Arm aus. »Ist das dort drüben nicht Euer Gatte, der gerade giftige Naqwurzeln isst?«
Als die Frau sich kreischend umdrehte, tauchte Keren schleunigst in einen Durchgang hinter
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