02 - Schatten-Götter
einem Vorhang ab. Im selben Moment begannen die Glocken zu läuten, und die Fanfaren schmetterten einen Tusch. Alle stürmten zu den Sitzplätzen. Keren presste sich an einen Pfeiler und verhinderte, dass sie von der Menge einfach durch den Gang gespült wurde. Aber über die Phalanx aus Menschenleibern vor sich konnte sie nur die obere Hälfte der großen Doppeltüren sehen, die sich nach außen öffneten.
Sie beschloss, auf die nächste Etage zu steigen und hastete über eine Empore an verschiedenen Lauben vorüber. In einer spielten Kinder an einem Brunnen, und in einer anderen saß ein Liebespaar unter einem Spiralblattbaum. Sie hatten sich umschlungen und küssten sich leidenschaftlich, ohne etwas anderes wahrzunehmen. Selbst die Krönung war ihnen egal. Keren sah gerade eine der Haupttreppen im Hintergrund, als jemand in ihrer Nähe eindringlich ihren Namen flüsterte. Sie drehte sich herum und erschrak, als sie Nerek sah, die von den Falten der geschlossenen Vorhänge, in denen sie stand, halb verborgen wurde.
»Keren, ich muss unter vier Augen mit dir sprechen.«
»Jetzt? Die Zeremonie fängt gleich an.« Sie sah, wie Nerek hinter den Vorhängen nickte. »Ich weiß, aber es kann nicht warten.« Sie klang heiser und tonlos. »In der nächsten Kammer befindet sich eine kleine Treppe. Sie führt zu einem Ruheraum. Geh dorthin. Ich komme sofort nach.«
Dann verschwand sie und hinterließ nur einen sacht schaukelnden Vorhang. Keren stieß eine leise Verwünschung aus und ging zur nächsten Kammer. Sie marschierte an achtlos weggeworfenen Spielkarten vorbei zu der schmalen Wendeltreppe und stieg hinauf. In dem kleinen Raum darüber war es dämmrig. Wertvolle Gobelins schmückten die Wände, drei gepolsterte Sitzbänke standen da und dicke Teppiche lagen auf dem gefliesten Boden. Sie hörte keine Bewegung, fühlte jedoch einen kühlen Luftzug, als ein Vorhang hinter ihr geteilt wurde. Instinktiv duckte sie sich und wirbelte herum, doch der Schlag streifte dennoch ihre Schläfe. Sie taumelte zur Seite und stolperte über einen niedrigen Tisch. Als sie ins Nereks Gesicht sah, wollte sie gerade eine Schimpftirade loslassen, bis sie den starren Blick der weitaufgerissenen Augen bemerkte. »Die Maske der Ersten, um die Zweite zu töten.« Die Stimme der falschen Nerek klang tief und sonor. »Dann wird die Maske der Zweiten dem Brunn-Quell dienen.«
Sie zückte einen kleinen Dolch, der kaum größer war als das Schmuckmesser einer Edeldame. Keren rührte sich nicht, als sie die Flüssigkeit auf den beiden Schneiden der Klinge glitzern sah. Gift, dachte sie. Ein winziger Schnitt, und ich bin tot…
Die falsche Nerek starrte sie immer noch düster an, legte den Kopf auf die Seite und beugte sich vor. »Für den Brunn-Quell«, sagte sie.
Sie holte aus, um einen Hieb gegen Kerens Gesicht zu führen, doch in dem Moment packte eine andere Hand ihr Handgelenk und bog es zur Seite. Keren schnappte nach Luft, als sie die echte Nerek sah. Ihr verletztes, aufgeschürftes Gesicht verzog sich vor Anstrengung und Wut. Die Doppelgängerin wehrte sich gegen diesen Angriff, und ihr starrer Blick zuckte zwischen Keren und Nerek hin und her. Als Keren sich mit einem Ruck aus der Reichweite des Dolches brachte, überwand Nerek die andere und schleuderte sie mit einem Schrei auf eine der Bänke, die unter dem Aufprall zusammenbrach.
Schritte näherten sich und jemand rief: »Hier drinnen!« Keren sah, wie Bardow und einige Bewaffnete in den Umhängen des Paladinordens hereinstürmten. Nerek hatte sich mit einem eisernen Kerzenleuchter bewaffnet, doch der Erzmagier winkte sie zurück. Er wollte etwas sagen, als die Doppelgängerin sich auf der zerbrochenen Bank aufrichtete und mit dem vergifteten Dolch auf Nerek deutete.
»Für den Brunn-Quell«, sagte sie erneut.
Bevor jemand reagieren konnte, zog sich die falsche Nerek den Dolch über die Innenseite ihrer anderen Hand. Dann schmierte sie das Blut aus der Wunde über ihr Gesicht und lächelte starr, als sie nach hinten über fiel. In ihren gebrochenen Augen zeigte sich bereits der Tod.
»Niemand rührt diesen Dolch an!«, bellte Bardow. »Niemand. Und auch nicht die Leiche. Wer weiß, welche Fallen hier noch verborgen sind!«
»Fallen, Meister?«, fragte einer der Ritter.
»Fischhaken«, erwiderte Bardow. »Nadeln, die ebenso vergiftet sind, oder Insekten, oder selbst ein langsam wirkendes Gift in Puderform. Berührt nichts mit bloßen Händen.«
Während Bardow sich Handschuhe
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