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02 - Schatten-Götter

02 - Schatten-Götter

Titel: 02 - Schatten-Götter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cobley
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Lauf des Olodar entlang bis zur Falkenbrücke und den Holz- und Steinhöfen sehen, welche das westliche Ufer bis zur Brücke der Speere säumten.
    »Stell dir die Niedere Macht als einen ruhigen, wogenden See vor«, fuhr die Blinde Rina fort. »Sie ist ganz anders als die reißenden Fluten des Brunn-Quell.«
    Vor zwei Tagen hatte die Blinde Rina Nerek über einen ihrer Boten ausrichten lassen, dass sie das Spiegelkind in den Grundlagen der Niederen Macht unterweisen wollte. Als Nerek Bardow um Erlaubnis bat, stimmte dieser zu ihrer Überraschung beinahe augenblicklich zu.
    »Ja«, sagte er. »Sie wäre eine großartige Lehrerin für Euch.«
    »Ihr kennt sie? Aber sie gehört doch nicht zu Euren Magiern, oder doch?«
    Der Erzmagier schnaubte verächtlich. »Sie wäre eine sehr schlechte Schülerin, jedenfalls für mich. Ihr Talente sind, in mancherlei Hinsicht, sehr rudimentär, und wurzeln außerdem in einer merkwürdigen Tradition.« Er runzelte die Stirn. »Versteht Ihr, Rina hegt eine merkwürdige Zuneigung zu dieser Stadt, wie das auch ihre Familie seit vielen Generationen tat. Mir ist lieber, sie bleibt eine heimliche Wächterin, als dass sie versucht, sich in die Palastpolitik einzumischen.«
    Der Stein an den Seitenstreben der Brücke war von dem grauem, gefrorenen Dunst des Flusses überzogen. Nereks Atemwolken wurden von einem leichten Wind weggeweht, und ihre Brust schmerzte bei jedem eisigen Atemzug. Sie hätte gefroren, wenn nicht ein schwaches, wärmendes Kribbeln über ihren Rücken und durch ihr Innerstes gelaufen wäre …
    »Gut, jetzt kommt es«, bemerkte die Blinde Rina.
    Auch ohne sie anzusehen spürte Nerek, wie die Frau einmal erfreut nickte.
    »Wir benutzen die Intonation von Symbolen, auch als ›Gedankengesänge‹ bekannt, um die Niedere Macht zu formen und zu bündeln«, erklärte die Blinde Rina. »Jeder von uns verwendet individuelle Symbole, wie kleine Fetzen, die Bedeutungen tragen, Erinnerungen, Bilder, Zeichen irgendeiner Art. Es existieren gleichzeitig viele Symbole, die für fast jeden dasselbe bedeuten, auch für die Niedere Macht. Aber statt es dir lange zu erklären, will ich es dir lieber zeigen.«
    Aus einer tiefen Tasche zog die Frau das Muster einer Armee-Standarte hervor, ein daumengroßes Stück Pergament, das an einem dünnen Stöckchen befestigt war, welches in einem Klumpen feuchten Lehms steckte. Sie legte es auf die hüfthohe Mauer, die ihre Bank umgab.
    »Wir benutzen den Gedankengesang des Windes, um einen Lufthauch zu erzeugen und unsere kleine Flagge umzuwerfen«, erklärte Rina. »Ich möchte, dass du dir zunächst einmal eine Vogelfeder vorstellst.« »Von welchem Vogel?«
    »Einen, den du kennst. Sagen wir einen der Flussvögel, zum Beispiel die Galeerenmöwe. Ihre Federn sind grau und weiß und verjüngen sich sehr hübsch. Kannst du sie sehen?«
    Zu Nereks Überraschung gelang ihr das leicht. Es war eine schiefergraue Feder mit blassen Flecken, einer dunkleren Spitze und feinen Büscheln am Schaft des Kiels. Ihre Vorstellung war so lebensnah, dass ihr unwillkürlich ein schwacher Verdacht kam … der sofort bestätigt wurde.
    »Ja, Nerek«, sagte die Blinde Rina. »Ich helfe dir ein bisschen bei der Vision. Später wirst du selbst in Dingen wie Federn oder Muscheln oder Blätter die Einzelheiten erkennen, die sie ausmachen und die ihre Bedeutung in deinem Verstand festlegen.
    Doch jetzt benötigen wir noch zwei weitere Elemente, um den Gedankengesang zu vervollständigen. Für den nächsten Schritt behältst du die Feder vor deinem inneren Auge und versuchst, dir eine brennende Fackel vorzustellen … gut. Und jetzt reduziere sie zur Flamme einer einzelnen Kerze …«
    Nerek fühlte, wie ihr unter ihrer Kleidung der Schweiß ausbrach. Er lief ihr über den Rücken und von ihrem Hals zwischen ihre Brüste. Zuerst hatte es so einfach ausgesehen, zwei Objekte klar vor Augen zu halten. Aber es wurde immer schwerer, als die Blinde Rina ihre Hilfe bei diesen Aufgaben zurückzog. Doch Nerek schaffte es, hielt die Bilder der Feder und der Kerze fest und schloss dabei ihre Umgebung beinahe völlig aus.
    »Gut gemacht. Die Stärke deiner Konzentration ist wirklich… beneidenswert. Jetzt kommt der dritte und letzte Teil des Gedankengesanges …«
    Die Frau verstummte, und Nerek fühlte, wie ihr aufmerksamer, innerer Blick in eine andere Richtung glitt. »Interessant… Welche Absicht haben wir denn da?«
    Feder und Kerze verschwammen, und plötzlich sah Nerek ihre

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