02 - Winnetou II
fliehenden Ponkas wird es nicht einfallen, sich durch Rufe zu verraten“, sagte Winnetou.
„Das ist auch meine Meinung“, antwortete ich. „Laufen wir schnell hin!“
„Ja, schnell! Er befindet sich in Gefahr, sonst würde er nicht rufen.“
Wir liefen, aber Winnetou nach Nord und ich nach Ost. Darum blieben wir sofort wieder halten, und der Apache fragte:
„Warum eilt mein Bruder dorthin? Es war im Norden.“
„Nein, sondern im Osten. Horch!“
Der Ruf wiederholte sich, und ich fügte hinzu: „Es ist im Osten; ich höre es ganz deutlich.“
„Es ist im Norden; mein Bruder Old Shatterhand irrt sich abermals.“
„Und ich bin überzeugt, daß ich recht habe. Er befindet sich in Gefahr, und wir haben also keine Zeit, die irrige Meinung zu berichtigen. Winnetou mag also nördlich gehen, während ich östlich laufe; einer von uns findet ihn dann bestimmt.“
„Ja, so soll es geschehen!“ Mit diesen Worten sprang er, der sich sonst in solchen Dingen niemals irrte, fort, und ich lief, so schnell ich konnte, in der von mir behaupteten Richtung davon. Schon nach kurzer Zeit bemerkte ich, daß ich recht gehabt hatte, denn der Ruf erklang wieder, und zwar viel deutlicher als vorher. Und dann sah ich vor mir eine Gruppe von kämpfenden Menschen.
„Ich komme, Old Firehand, ich komme!“ schrie ich und verwandelte meine Sprünge in noch viel weitere Sätze.
Nun sah ich die Gruppe viel deutlicher. Old Firehand kniete an der Erde, weil er verwundet zusammengesunken war, und verteidigte sich gegen drei Feinde, während er schon drei niedergemacht hatte. Das waren die sechs, denen wir die Pferde genommen hatten. Jeder Streich konnte ihm das Leben kosten, und ich war wohl noch fünfzig Schritte weit. Darum blieb ich stehen und legte den Stutzen an, den ich wieder geladen hatte. Es war bei dem unbestimmten Schein des Mondes, und weil infolge des schnellen Laufes mein Puls schneller ging und meine Lunge rascher atmete, ein gefährliches Schießen, denn ich konnte den treffen, dem ich helfen wollte; aber ich mußte es wagen. Drei schnell aufeinanderfolgende Schüsse; die drei Feinde stürzten nieder, und ich rannte weiter, auf Old Firehand zu.
„Gott sei Dank! Das war zur rechten Zeit, grad im letzten Augenblick, Sir!“ rief er mir entgegen.
„Ihr seid verwundet?“ fragte ich, bei ihm angekommen. „Doch nicht etwa schwer?“
„Lebensgefährlich wohl nicht. Zwei Tomahawkhiebe in die Beine. Die Kerls konnten mir oben nicht an den Leib; darum hackten sie unten in die Beine, daß ich zusammenbrechen mußte.“
„Das gibt großen Blutverlust. Erlaubt, daß ich Euch untersuche.“
„Ja, Ja! Aber, Sir, was seid Ihr für ein Schütze! Bei solchem Licht und nach einem solchen Dauerlauf alle drei mitten in den Kopf getroffen! Sie sind tot. Das bringt nur Old Shatterhand fertig! Ich kam Euch vorhin, als wir Tim Finnetey verfolgten, nicht nach, weil ich eine Pfeilwunde am Bein hatte, die mich am Laufen hinderte. Eure Spur konnte ich nicht sehen; ich suchte nach Euch; da wuchsen diese sechs roten Kerls grad vor mir förmlich aus der Erde; sie hatten sich platt niedergelegt, um mich herankommen zu lassen. Ich hatte nur das Messer und meine Fäuste, weil ich die anderen Waffen, um besser laufen zu können, weggeworfen habe. Sie hackten mich in die Beine; drei stach ich nieder; die anderen drei hätten mich, wenn Ihr nicht gekommen wäret, wohl kalt gemacht. Ich werde dies Old Shatterhand niemals vergessen!“
Während er dies erzählte, untersuchte ich seine Wunden; sie waren schmerzhaft, aber glücklicherweise nicht gefährlich. Da kam Winnetou und half sie mit verbinden. Er gab freimütig zu, heut einmal von seinem sonst so vortrefflichen Gehör getäuscht worden zu sein. Die sechs Toten ließen wir liegen und kehrten nach der Bahn zurück, natürlich sehr langsam, weil Old Firehand nicht schnell gehen konnte. Darum wunderten wir uns nicht darüber, daß der Zug fort war, als wir das Geleise erreichten. Der Zug hatte seine Zeit einzuhalten und nicht länger warten können. Die erbeuteten Pferde standen bei den unsrigen angepflockt, und das war gut, weil wir nun Old Firehand leichter transportieren konnten. Freilich waren wir seinetwegen gezwungen, eine Woche oder auch noch länger still zu liegen, bis er zum Reiten fähig war, und dazu schlug er uns eine einen halben Tagesritt entfernte Stelle vor, wo es Wald und Wasser gab und wir also nicht nur für uns, sondern auch für unsere Pferde alles hatten, was wir
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