020 - Die Blutgraefin
war viel zu früh auf, aber an Niederlegen war nicht mehr zu denken. Ich schauderte bei dem Gedanken an das Bett. So unternahm ich einen kleinen Morgenspaziergang in der Nähe meines Hotels. Ich hatte Ornella noch gar nicht vorgeschlagen, mit mir zu kommen. Wir hatten überhaupt noch nicht viel über unsere Pläne gesprochen, aus Angst, es könnte sich etwas zwischen unsere Zuneigung drängen und das zarte Gespinst unserer Liebe zerreißen.
Als ich zurückkam, war es fast acht. Jemand hatte mich angerufen und seine Nummer zurückgelassen. Ich beschloss, nicht vom Zimmer aus zu telefonieren, sondern ging in eine Telefonzelle, die sich zwei Straßen weiter befand.
Eine Dame, hatte mir der Hotelportier erklärt, sei es gewesen.
Ornella vermutlich.
Aber es war Madame Ferenczek, und ihre Stimme klang einigermaßen aufgeregt.
»Ah, Herr Clement«, rief sie erleichtert.
»Madame?« erwiderte ich erstaunt. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, erwiderte sie hastig. »Sagen Sie mir eines: Sind Sie sicher, dass Sie während der Seance diese Schreie aus meinem Mund gehört haben?«
»Aber ja«, erwiderte ich.
»Kein Zweifel möglich?«
»Nein. Beängstigt Sie das?«
Sie flüsterte, dass ich sie kaum verstand. »Es war Ihre Idee, nicht wahr, Bellamy in die Vergangenheit zu schicken?«
»Allerdings«, meinte ich. »Sie haben mir das alles vorher mit Ihren Worten über Blut und Stein und Vergangenheit so schmackhaft gemacht, dass ich nicht widerstehen konnte.«
»Wir haben etwas geweckt – aus der Vergangenheit«, flüsterte sie.
Ich hielt den Atem an. »Was?«
»Ein wenig von dem Blut und den alten Qualen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe heute Nacht kaum ein Auge zugetan«, erklärte sie.
»Sie auch?« entfuhr es mir.
Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, fuhr sie fort: »Es begann etwa um halb eins und dauerte fast eine Stunde. Es war grauenvoll.«
»Was?« fragte ich ungeduldig.
»Die Schreie«, berichtete sie. »Sie waren fürchterlich.
Welches weibliche Geschöpf da unten in den Gewölben auch geschrieen hat, es muss furchtbare Qualen erlitten haben. Und es nahm kein Ende.«
»Aus den Gewölben?« fragte ich.
»Ja, es klang gedämpft. Aber es war deutlich zu hören, als wanderte der Ton durch die alten Mauern.«
»Sie haben vielleicht geträumt«, wandte ich ein.
»Nein, Herr Clement, ich war so wach wie in diesem Augenblick. Etwas Entsetzliches ist heute Nacht in diesem fluchbeladenen Haus geschehen.«
Ich überlegte fieberhaft. Es war nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch von Madame zu Ornellas Wohnung. Ein Taxi zu nehmen war eine riskante Sache, da um die Mittagszeit die Straßen im Altstadtbezirk meist gründlich verstopft waren.
Und mit den Bussen kannte ich mich noch zu wenig aus. Aber wenn ich bis zwölf bei Ornella war, traf ich sie sicher noch an, bevor sie sich auf den Weg zu meinem Hotel machte.
»Wäre es Ihnen recht, wenn ich jetzt vorbeikomme?«
»Gut, gut«, erklärte sie erleichtert. »Kommen Sie. Ich bin mit den Nerven am Ende.«
»Ich mache mich sofort auf den Weg«, versprach ich und legte auf.
Das Gesicht der Alten war plötzlich wieder vor mir, umrahmt von der schwarzen Fensteröffnung. Eine Aura von Triumph umgab das Gesicht.
Ich schüttelte die Vorstellung ab, die mir meine überreizten Nerven vorgaukelten. Kein Wunder nach dieser Nacht.
Ich musste dieses Gewölbe sehen. Auch auf die Gefahr hin, dass mir nicht gefiel, was ich dort fand.
Ich besorgte mir eine starke Taschenlampe, Streichhölzer, ein Taschenmesser und Kreide und fühlte mich schon halb wie ein Höhlenforscher. Wenigstens fühlte ich denselben Tatendrang, als ich bei Madame eintraf. Sie schien wirklich sehr erleichtert, dass ich da war. Sie berichtete mir erneut ihr nächtliches Erlebnis in allen Details. Es hatte geklungen, behauptete sie, als wäre eine Frau zu Tode gefoltert worden – als sei die Blutgräfin wieder lebendig geworden und hätte ihre grauenhafte Tätigkeit wieder aufgenommen. Das schien mir nun doch alles ziemlich weit hergeholt, obwohl ich von der Existenz übernatürlicher Dinge an sich überzeugt war.
Als ich ihr meine Absicht bekundete, das Haus zu durchsuchen und ebenso die geheimnisvollen Gewölbe, nickte sie nur.
»Ich kann Ihnen helfen«, erklärte sie. »Nur die wenigsten Räume des Hauses sind von außen betretbar, und den Zugang zu den Gewölben zu finden, wäre reiner Zufall. Aber ich weiß einen anderen Weg. Er führt durch mein Haus …«
Erstaunt sah ich sie
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