020 - Die Blutgraefin
aber fünfundzwanzig Minuten später war ich in der Schulerstraße und läutete an Madame Ferenczeks Hausklingel.
Sie öffnete mir im Schlafmantel. Sie war verstört und bleich.
»Es hörte vor etwa fünf Minuten auf«, flüsterte sie hastig.
»Seither ist alles ruhig. Sicher – ist sie tot …«
»Wahrscheinlich«, stimmte ich mit einem lauen Gefühl im Magen zu. »Wir werden es gleich wissen.«
Ich begab mich sofort in den Keller. Furcht hatte ich seltsamerweise keine, nur eine unbezähmbare Neugier trieb mich vorwärts, hinein in den engen feuchten Gang. Diese unterirdische Stille war wieder um mich, und ich empfand sie ebenso bedrückend wie beim ersten Mal. Ich fand niemanden.
Wer immer hier unten seiner unmenschlichen Tätigkeit nachging, hatte die Gewölbe bereits wieder verlassen.
Aber dann stieß ich auf die Spuren seiner Tätigkeit, und ich fühlte, wie das Entsetzen in mir hoch kroch. Die Ketten waren voller Blut, und eine neue Blutspur führte hinüber zu jenem Raum, in dem sich der Käfig befinden musste. Ich stürmte hinein.
Es roch nach Blut. Nach frischem Blut. Ich bemerkte eine lange, lanzenartige Stange, die ich bei meinem ersten Besuch nicht gesehen hatte. Ihre scharfe Spitze war noch klebrig von Blut. Der Boden war rot und feucht, die Pflastersteine glänzten im Licht der Taschenlampe. Der Stuhl stand noch in der Mitte des Raumes. Ich beugte mich darüber. Die Armlehnen waren glitschig von Blut.
Während ich darüber gebeugt stand, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich hielt den Atem an und lauschte.
Nichts. Etwas berührte mich im Nacken, versetzte mir einen kleinen Schlag wie mit einem Finger oder einem schweren Regentropfen.
Ich erstarrte. In mir wurde alles zu Eis.
Ein Tropfen! Aber nicht vom Regen …
Ich fuhr mit der linken Hand vorsichtig über meinen Nacken, bis ich eine nasse Stelle berührte. Beim Betrachten der Finger im Schein der Taschenlampe sah ich es: Sie waren rot.
Ich starrte nach oben an die Decke und richtete den Lichtkegel auf den Punkt genau über mir.
Da hing der Käfig, und in ihm – dunkelrot, von weißen Flecken unterbrochen: eine reglose Gestalt. Ich kämpfte gegen den Brechreiz an. Es war ungeheuer schwer, den Blick loszureißen von dem Grauen dort oben.
Ein erneuter Blutstropfen, der mitten auf mein Gesicht platschte, ließ die Starre von mir abfallen. Ich löste den Strick von seiner Verankerung an der Wand und senkte den Käfig langsam nach unten, bis er mit einem leisen Scharren von Eisen auf Stein zum Liegen kam, herumrollte und die nackte Gestalt im Innern einen Augenblick gespenstisch bewegte. Sie kippte nach vorn, als die eisernen Dornen ihren Rücken freigaben. Dafür gruben sich andere in das weiche Fleisch ihres Gesichtes, in den Hals, in die Brüste. Am gespenstischsten war, dass dem Körper kein Laut des Schmerzes entfloh.
Das Mädchen war längst tot. Nur die weit aufgerissenen Augen, der im stummen Schrei offene Mund und die verzerrten Züge berichteten von der Qual, die sie erlitten haben musste.
Übelkeit würgte mich erneut, und ich hatte Mühe, mich nicht zu übergeben. Ich musste mich an die Wand lehnen.
Eine Bewegung hinter mir ließ mich herumfahren, aber ich war zu langsam. Etwas knallte gegen meinen Kopf und nahm mir alle Kraft. Die Taschenlampe entfiel meiner kraftlos gewordenen Hand und ging aus, als sie am Boden aufprallte.
Beim Wiedererwachen umgab mich totale Finsternis. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich erinnerte, nachdem ich einige Male vergeblich nach der ›Nachttischlampe‹ getastet und immer nur glatte, abgetretene Pflastersteine berührt hatte.
Dann griff ich systematisch um mich, um die Taschenlampe zu finden. Ich fand sie gleich darauf, aber das Glas war gesplittert, die Birne offenbar zerbrochen und alle Einschaltversuche vergeblich. Dann erinnerte ich mich der Zündhölzer in meiner Jacke. Ich richtete mich auf. Mein Kopf brauchte eine Weile, bis er mitmachte. Stöhnend presste ich meine Hände an den Hinterkopf und ließ noch heftiger stöhnend wieder los. Da war eine dicke Schicht geronnenen Blutes, und die Stelle fühlte sich an, als wären die Nerven an der Oberfläche. Als der Schmerz nachließ, kramte ich nach den Streichhölzern. Erleichtert fand ich sie in der Jackentasche. Mit zitternden Fingern entzündete ich eines und sah mich in dem grell flackernden Licht hastig um. Ich war allein. Aber jemand hatte auch gründliche Arbeit geleistet, während ich weggetreten war.
Der Raum
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