0200 - Ich stieß das Tor zur Hölle auf
den Vorhang zur Seite schlug, der zwei Räume voneinander trennte, gelangte sie in eine Diele, wo sie ihre Besucher empfing. Auch hier war schon das Flair des anderen, des Fremdartigen zu spüren. Die Besucher betraten eine andere Welt. Samt an den Wänden. Geheimnisvoll, wenn nicht ein wenig düster das Licht.
Die Lampen waren in die Decke eingelassen worden. Ihr Schein fiel in langen Bahnen senkrecht auf den mit einem weichen roten Teppich belegten Boden. Die Garderobe bestand aus schwarzem Holz. Bei der Versteigerung eines Schloßinventars hatte Tanith sie erworben. Das wertvolle Möbelstück hatte ihr damals so gut gefallen, dass sie es direkt kaufte. Die Garderobe war durch einen Spiegel unterteilt. In seiner Form bildete er einen Kreis. Der Spiegelrand zeigte die zwölf Tierkreiszeichen der Sternbilder. Diesen Spiegel hatte sie sich anfertigen lassen, und immer wieder wurde er von ihren Kunden und Gästen bewundert.
Auch Tanith blieb vor ihm stehen und schaute sich an. Die letzten Tage waren für sie anstrengend gewesen, obwohl sie keine Kunden empfangen hatte. Der Spiegel log nicht. Er gab ihr Gesicht so wieder, wie es in Wirklichkeit war, und er verdeckte auch nicht die Ringe unter ihren Augen, die dunkle Halbkreise bildeten. Dieser Spiegel war unbestechlich!
Das Haar ließ sich Tanith bei einem Coiffeur dunkel färben. Sie mochte keine grauen Strähnen, und die bekam ein Mensch nun mal, wenn er die vierzig überschritten hatte. Manchmal band sie das Haar zu einem Knoten im Nacken zusammen, was ihrem Gesicht dann einen strengen Ausdruck verlieh. An diesem Abend jedoch hatte sie es lang auf ihre Schultern fallen lassen.
Man merkte ihr an, dass slawisches Blut in ihren Adern floss. Und in der Tat stammte sie aus Ungarn. Sie hatte dieses Land als junges Mädchen während des Einmarsches der Russen verlassen und in Paris eine zweite Heimat gefunden. Ihre Eltern kannte sie nicht. Sie sollten jedoch einem alten Zigeunergeschlecht entstammen. Die Nase war leicht gebogen, der Mund vielleicht ein wenig zu schmal, und ihr Gesicht hätte ein wenig herb ausgesehen, wenn da nicht die beiden Augen gewesen wären. Sie waren wirklich das Besondere an ihr. Dunkel, geheimnisvoll und angefüllt mit einer inneren Glut, glichen sie zwei kostbaren Perlen. Diese Augen spiegelten die Gefühle der Frau wider. Sie konnten traurig, aber auch feurig blicken. Sinnlich und hart, ebenso warnend und verschleiert. Das wechselte je nach Empfindungen und Stimmung.
Die Figur der Frau war unter dem langen, umhangähnlichen Hausmantel nur zu ahnen, doch die Frau achtete sehr auf ihren Körper, der noch die Straffheit und Jugendlichkeit einer 25jährigen hatte.
Abermals warf sie einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Minuten, dann musste sie kommen. Sie das war ihr Medium, eine junge Malerin, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug und von dem existierte, was sie verkaufte. Es war wenig genug, denn mit ihren Bildern lag sie nicht im Trend. Im Gegensatz zu Tanith, der Astrologin. So manchen Franc hatte ihr die Wahrsagerin zugesteckt, denn das Medium war für sie sehr wertvoll.
Lucille hieß die Kleine. Zwanzig Lenze zählte sie, doch sie hatte mehr erlebt als mancher Greis. Dieses Medium hatte Welten gesehen, die den Augen eines Normalsterblichen verschlossen waren. Hineingeschaut hatte sie in die Reiche der Dämonen, kannte manche Strukturen und hatte sie der Astrologin mitgeteilt.
Es schellte. Warm und weich war der Klang des Gongs. Er füllte die Diele aus und verhallte nur allmählich. Tanith straffte sich. Ihre dunklen Augen blitzten. Jetzt war es soweit. Nun gab es kein Zurück mehr für sie. Mit festen Schritten ging sie zu der hohen Tür und zog sie auf.
Kälte fuhr in den Raum. Ein Wagen fuhr mit abgeblendeten Lichtern auf der Straße an ihrem Haus vorbei. Aus seinem Auspuff quoll eine helle Fahne und zerflatterte. Lucille stand auf der schmalen Treppe.
»Da bin ich«, sagte sie leise.
»Bitte, komm herein«, erwiderte die Astrologin. Sie gab den Weg für die Besucherin frei.
Um Lucilles Lippen spielte ein leichtes Lächeln, als sie auf der Matte den Schneematsch von ihren Schuhen trat und in die Diele schritt. Tanith schloss die Tür und drehte auch den Schlüssel herum. Niemand sollte sie jetzt stören. Lucille war ein wenig unvorteilhaft gekleidet. So zog sich kein junges Mädchen in der heutigen Zeit an. Sie trug einen grauen Mantel, dessen Schnitt vor zwanzig Jahren einmal modern gewesen war. Die braunen Schuhe
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