0200 - Ich stieß das Tor zur Hölle auf
hatten schiefgelaufene Absätze, und die dunklen Wollstrümpfe ließen die Beine plump erscheinen. Tanith half ihrem Medium aus dem Mantel. Darunter trug Lucille einen braunen Pullover mit Rollkragen.
»Wie fühlst du dich?« fragte die Astrologin.
»Gut.«
»Wirklich?« Lucille nickte.
Sie hatte Naturkrause, und die blonden Locken bewegten sich heftig. Wie kleine Spiralen schwangen sie auf und nieder. Das Gesicht des Mädchens war schmal. Lucille trug Haftschalen, weil sie schlecht sehen konnte. Sie gehörte zu den Typen, die von den Männern auf der Straße übersehen wurden und für die man den Begriff Mauerblümchen geprägt hatte. Auch von der Psyche her war Lucille eher still, bescheiden, zurückhaltend und manchmal sogar ängstlich. Sie hatte an ihrer Begabung schwer zu tragen. Deshalb zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurück.
Tanith hängte den Mantel auf.
»Hast du gegessen?« erkundigte sie sich.
»Ja.«
Als Lucille rot wurde, lachte Tanith auf. »Warum lügst du? Ich höre deinen Magen knurren. Komm mit, ich habe ein wenig vorbereitet.«
Sie gingen in die Küche. Hier gab es nichts Geheimnisvolles. In diesem Raum regierte die moderne Technik. Eine Mischung aus blitzendem Stahl und weißem Kunststoff. Die Hähnchenschenkel standen auf dem Tisch. Dazu gab es Stangenbrot und einen trockenen Rotwein.
»Bitte, iß.«
»Danke.« Lucille nahm Platz und griff nach einem Schenkel.
Während sie kräftig hineinbiß - sie hatte wirklich Hunger - schaute sie Tanith an.
»Woran denkst du?« fragte die Astrologin.
»Ich weiß es nicht.«
Taniths Lippen kräuselten sich. »Das gibt es nicht. Du musst doch wissen…«
»Doch, das gibt es. In meinem Kopf ist alles so seltsam. Es geht so durcheinander…«
»Das legt sich wieder.«
»Ich hoffe es.«
Die nächsten zwei Minuten vergingen schweigend. Lucille aß mit gutem Appetit und nahm auch ab und zu einen Schluck von dem Roten. Als sie die letzten Fleischstücke hinuntergeschluckt hatte, wischte sie sich an einem bereitliegenden Tuch die Hände ab.
»Möchtest du eine Zigarette?« fragte Tanith.
»Bitte.«
Die Wahrsagerin gab ihr eine. Lucilles Hände zitterten ein wenig, was Tanith wohl bemerkte. Tief sog das Medium den Rauch ein, lehnte sich zurück und schloss die Augen halb.
»Hast du Bilder verkauft?«
»Nein, nichts.« Lucille ließ den Rauch durch ihre Nasenlöcher ausströmen. »Die Menschen mögen meine Kunst nicht, Sie ist ihnen zu fremd. Ich kann aber nicht das malen, was sie wollen. Ich muss meine Empfindungen, meine Gefühle und damit auch meine Seele zeigen.« Sie beugte sich heftig vor. »Stimmt doch oder?«
»Natürlich.« Tanith kannte Lucilles Bilder. Sie hatte selbst einige erworben. Diese Bilder zeigten einen Wirrwarr aus düsteren Farben, und sie dokumentierten die innere Zerrissenheit, die Lucille an manchen Tagen depressiv erscheinen ließ. Aber sie sprachen auch von einem Gefühl der Wärme, von der Suche nach Geborgenheit, und sie verkündeten von anderen Welten, die jenseits der normalen lagen.
Lucille drückte die Zigarette aus. Dann legte sie ihre Hände auf die Tischplatte und schaute Tanith auffordernd an. »Sollen wir?«
»Ja.«
Beide Frauen standen auf. Tanith legte einen Arm um die Schultern des Mediums und führte es aus der Küche in das Arbeitszimmer der Astrologin. Viele Menschen glauben, dass das Arbeitszimmer einer Wahrsagerin einer Hexenküche gleicht. Bei einigen mag das ja zutreffen, nicht so bei Tanith. Dieses Zimmer war fast nüchtern eingerichtet und praktisch in zwei Hälften unterteilt. In einer, rechts von der Tür aus gesehen, stand ein alter, wertvoller Schreibtisch. In der Ecke daneben, wo sich auch das Fenster befand, es war in einen kleinen, ausgebauten Erker hineingepasst, standen zwei Sessel und eine kleine Rundcouch. Der Tisch zwischen ihnen war aus Metall und hatte eine Schieferplatte.
Die andere Hälfte des Zimmers lag ein wenig im Halbdunkel. Die Lampen gaben nur soviel Licht, wie eben nötig war. Sie ließen auch den runden Meditationstisch und die mit dunklem Stoff bezogene Couch aus, so dass niemand geblendet werden konnte, der am Tisch saß oder auf der Couch lag.
Neben der Couch stand ein Produkt der modernen Elektronik. Eine sehr teure Anlage, deren Turm durch das hochkant gestellte Tonband seinen Abschluss fand. Auf diesen Bändern nahm die Astrologin jedes Gespräch auf, falls sich ihr Kunde nicht eindeutig dagegen aussprach. Vor einer halben Stunde noch hatte sie ein neues
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