022 - Schreie aus dem Sarg
er konnte nicht
sehen, dass die Lippen seines rätselhaften Besuchers sich bewegten. »Ihre
Tochter wird nicht tot sein. Sie kommt als – eine andere hier an!«
»Wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich so etwas Ähnliches heute Abend
schon einmal gehört. Im Gespräch mit einem Arzt.«
»Dieser Mann hatte vielleicht nicht unrecht, wenn er etwas Derartiges
erwähnte. Offenbar kennt er sich ein wenig in der Macht der Zauberpriester aus.
Unsere Medizinmänner verfügen noch heute über Kenntnisse, vor denen auch ein
studierter Mann oft kapitulieren muss. Ihre Tochter wurde von der Strafe der Gnamous getroffen. Diese Strafe fügten
manche Malinke-Stämme ihren größten Feinden zu. Sie schickten ihre Todfeinde
als Leichnam zurück, als Leichname, die zu bestimmten Stunden wieder erwachten
und dann im feindlichen Dorf umgingen, wo sie Angehörige, Freunde, Verwandte
und Bekannte massakrierten. Sie gingen um zu nächtlicher Stunde, und niemand
verdächtigte einen Toten ...«
» Unsinn !«
»Das dachten Petersen in Deutschland, Ricon in Frankreich und Whitness in
England auch. Sie bestatteten die Toten, obwohl sie unsere Warnung kannten. Sie
haben – Scheintote beerdigt ! Sie
setzten Lebende bei, die erst in den Gräbern umkamen!«
Luison erschauerte, als er sich das vorstellte.
»Sie haben unsere Warnung – ebenso wie Sie – in den Wind geschlagen. Sie
wollen sich doch nicht am Tod Ihrer Tochter schuldig machen, nicht wahr ?« Die letzte Frage klang fast
ein wenig spöttisch.
Der geheimnisvolle Besucher fuhr fort. »Sorgen Sie dafür, dass nach der
dreitägigen Totenwache, die in ihren Kreisen doch wohl noch üblich ist, der
Sarg nicht in die Erde versenkt wird! Lassen Sie ihn ruhig im Zimmer stehen!
Ihre Tochter wird ihn dringend benötigen. Ich sagte vorhin schon: Es liegt ganz
an Ihnen selbst, ob Sie am Tod Ihrer Tochter schuldig werden oder nicht,
Monsieur ...!«
Der Hohn, die Anmaßung und der Triumph, die in diesen Worten mitschwangen,
waren dazu angetan, Luisons Gefühle abermals aufzupeitschen. Er konnte sich
nicht länger beherrschen. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er vom Stuhl
auf. Noch ehe sein Gegner sich versah, stürzte der stämmige Franzose wie eine
Raubkatze in die düstere Ecke und packte den rätselhaften Besucher, der sich
auch jetzt noch nicht regte, an beiden Schultern.
Luison spürte das trockene, langfaserige Gras des eigentümlichen Gewandes
zwischen seinen Fingern. Die Gestalt brach unter seinem Ansturm ächzend
zusammen.
Die unheimliche Maske fiel dumpf zu Boden.
»Eine Attrappe?!«, kam es ungläubig über Luisons Lippen. Die Gestalt – eine
Vogelscheuche, die man auf zwei dürren Ästen aufgebaut hatte.
Wie unter dem Druck einer unsichtbaren Hand wich Luison zurück. Er bemerkte
erst jetzt die klebrige Flüssigkeit an seinen Fingern. Er näherte seine Hände
langsam dem Gesicht, und abermals packte ihn das Grauen.
» Blut ?!!«
Der Franzose kam nicht zur Besinnung. Die Dinge überstürzten sich.
Er hörte, wie die Terrassentür zugeschlagen wurde.
Es war jemand im Haus!
Eine Glasscheibe splitterte, ein lauter Aufschrei hallte durch das
nächtliche Haus. Gerard Luison stürzte die Treppen hinunter. Auf dem untersten
Absatz blieb er stehen und starrte auf die Szene, die sich seinen Augen bot. Da
stand, die Haare in der Stirn, ein junger Weißer. Vor ihm auf dem Boden, in
zahllosen Glassplittern, lag ein Afrikaner, der sich nicht rührte.
»Entschuldigen Sie, wenn ich so unangemeldet in Ihr Haus eindringe,
Monsieur Luison«, sagte Larry Brent. Seine weißen Zähne blinkten in der
Dämmerung. »Aber es war eine Notwendigkeit, über die ich Sie vorher leider
nicht unterrichten konnte. Der Bursche, der Ihnen Angst einjagen wollte – ich habe
ihn gerade noch erwischt. Ein ausgezeichneter Bauchredner, der seine Rolle
hervorragend gespielt hat ...«
Es dauerte fünf Sekunden, ehe Luison sich von seiner Überraschung erholt
hatte. Zahllose Fragen drängten sich ihm auf, doch er kam nicht dazu, auch nur
eine einzige zu stellen. Larry Brent, der genau wusste, was in dem Franzosen
vorging, fand sofort die richtigen Worte, um die Situation zu klären.
Er erwähnte, dass er zum Schutz Luisons hier wäre.
»... mein Name ist Larry Brent. Ich bin Agent einer Sonderabteilung.« Mehr
sagte er über die Psychoanalytische Spezialabteilung nicht. »Die guineische
Regierung hat einen Spezialisten angefordert, um die merkwürdigen Fälle zu
klären, die während der letzten
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