022 - Schreie aus dem Sarg
wurden oder die im Traum
erschienen.
Dann überfiel sie urplötzlich wieder die nackte Angst.
Nanette fühlte, dass irgendetwas vorging, das ihren Geist verwirrte und sie
an den Rand des Wahnsinns trieb.
Ihr Körper spannte sich wie unter einem Krampf. Die Augen fielen ihr zu.
Sie schlief. Es war ein Schlaf in den Tod.
Sie atmete tief und ruhig. Als sie die Augen aufschlug, fühlte sie sich
merkwürdig entspannt.
Da war irgendetwas gewesen, hämmerte es in ihr ...
Und die Erinnerung setzte schlagartig ein. Dieser Traum, dieser schreckliche Traum! Die scheußlichen
Gestalten, die gefiederten Pfeile.
Sie richtete sich auf. Sie lag in ihrem Bett – glaubte sie im ersten
Augenblick.
Doch dann folgte das wirkliche Erwachen.
Es traf sie wie eine eiskalte Dusche.
Sie saß in einem Sarg ! Sie
blickte über die flachen Seitenwände hinweg. Eine geheimnisvolle Lichtquelle tauchte
den Raum, in dem sie sich befand, in dämmriges Licht.
Rundum hingen Spiegel. Ihre Augen weiteten sich, als sie sich selbst darin
sah. Ihr ganzer Oberkörper war bedeckt mit zahllosen winzigen gefiederten
Pfeilen. Doch nirgends zeigte sich ein Blutstropfen. Es war, als ob man
bestimmte Nervenstränge, die sich auch auf dem Nacken und der Schädeldecke
fortsetzen, punktiert und mit geheimnisvollen Essenzen und Kräuterauszügen
getränkt hätte.
Sie streckte die Hände aus und berührte ihr Spiegelbild.
»Mein Gott!«, stöhnte sie. »Ich kann nicht mehr aufwachen. Ich kann nicht
mehr aufwachen!«
●
Er war gehorsam wie ein Kind, dem man etwas versprochen hatte.
Würde diese rätselhafte nächtliche Begegnung ihm völlige Aufklärung
bringen?
»Was wissen Sie von Nanette?«, fragte er rau. Er konnte seine Blicke nicht
von der geheimnisvollen, reglosen Gestalt in der Ecke wenden, deren
weißumränderte Augen hypnotisch auf ihn gerichtet waren. »Warum wurde sie
entführt? Das Kleid auf der Straße – ihr Kleid – nur mit bloßer Absicht
dahingeworfen, um uns völlig zu verwirren, nicht wahr?«
»Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten, Monsieur Luison. Ich
gehe dabei nicht so weit, auf Ihre Vermutungen einzugehen, noch habe ich ein
Interesse daran, Ihre Fragen zu beantworten. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen
...«
»Dann tun Sie endlich etwas!«
Luison war aufgebracht.
»Sie sollten sich besser beherrschen lernen, Monsieur.« Die Stimme klang um
eine Nuance schärfer, und Gerard Luison schloss sekundenlang die Augen und
ballte die Hände zu Fäusten. Ja, er musste sich beherrschen, er wusste es, aber
wie schwer fiel es ihm gerade in diesem Augenblick. Am liebsten wäre er
aufgesprungen und hätte den Burschen, der stur und steif in der dunklen Ecke
stand, niedergeschlagen. Aber einen solchen Gefühlsausbruch konnte er sich
nicht leisten. Er stand im Augenblick auf der Verliererseite und musste
nachgeben. Vielleicht war doch noch etwas zu gewinnen. Er musste Geduld
aufbringen ...
Sekunden qualvollen Schweigens vergingen. Luison kam es vor, als würde eine
ganze Stunde vergehen, ehe sich der geheimnisvolle Besucher mit der
abschreckenden Maske weiterzusprechen bequemte.
Der Franzose lauschte auf jedes Wort. Er hoffte, nicht nur mehr über das
Schicksal seiner Tochter zu erfahren, sondern durch die Stimme, vielleicht
durch ein unbedachtes Wort, herauszufinden, wer sich hinter der Maske verbarg.
Ein Fremder konnte es nicht sein. Es musste sich um jemand handeln, der hier
sehr genau Bescheid wusste, der auch die Macht hatte, die abergläubischen Eingeborenen,
die in diesem Hause Dienst taten, einzuschüchtern und zu vertreiben.
»... warum dies alles geschieht, darüber erübrigt sich jede Diskussion,
Monsieur. Es muss geschehen. Sie haben sich eines Verbrechens schuldig gemacht,
das Sie nie wieder gutmachen können. Sie haben ausgebeutet, Sie haben gemordet
...«
»Das ist nicht wahr!« Luisons Erwiderung war ein einziger Aufschrei.
»Sie und manch anderer Europäer.«
Er hatte es geahnt. Hier stand ein Rassenproblem zur Debatte. Ein
Rassenproblem – dem Nanette zum Opfer gefallen war.
»Doch das alles ist unwichtig. Wir wollen nur von Ihrer Tochter sprechen.
Sie wird zu Ihnen zurückkehren. In spätestens vierundzwanzig Stunden wird sie
wieder in diesem Haus sein. Bereiten Sie sich darauf vor! Sie wird in einem Sarg
zurückkehren – in einem Sarg, wie er hier vor Ihnen im Zimmer steht!«
»Verbrecher«, presste Luison zwischen den Zähnen hervor.
Luisons Augen brannten. So sehr er sich auch anstrengte,
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