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schien nicht sehr erfreut zu sein. „Hör damit auf, denn sonst wird sie die eifersüchtige Ehefrau spielen."
„Lass ihn in Ruhe. Ich habe dich nur geneckt."
Roger widmete sich emsig seinem Stück Taubenpastete, um jedem weiteren ihm peinlichen Gespräch zu entgehen. Eleanor hingegen fand, dass die Hitze ihr den Appetit genommen hatte. Sie aß nur wenig von der Pastete und verspeiste dann langsam kauend einen Apfel. Gundrade kam zurück, um abzuräumen, und bemerkte Eleanors immer noch volles Schneidebrett. Sie ging weg und kehrte mit einem frischen Obstkuchen zurück, der noch ofenwarm war.
„Vornehme Dame", sagte sie zu Eleanor, „du musst essen, um bei Kräften zu bleiben. Bitte, versuche ein Stück davon. Der Kuchen ist frisch und schmackhaft."
Merville und Roger tauschten einen Blick, nachdem Gundrade in die Küche zurückgegangen war. „Jetzt siehst du, Jean, dass es vorteilhafter ist, mit einer hoch schwangeren Frau zu reisen, statt mit einem Knappen. Sieh, wer den besten Teil des Essens bekommen hat."
„Nein." Eleanor schob den Männern den Kuchen hin. „Teilt ihn euch. Mir ist zu heiß zum Essen."
Besorgt schaute Roger sie an. „Du wirst doch nicht krank, nicht wahr?"
„Nein, es liegt an der Hitze."
Roger stand auf und hielt Eleanor die Hand hin. „Lass uns draußen, wo es kühler ist, etwas spazieren gehen. Jean, du kannst den Nachtisch aufessen." Er blickte durch ein Fenster und bemerkte: „Es wird dunkel. Wir treffen dich später auf dem Dachboden."
„Ja." Merville wog den Weinschlauch und nickte. „Hier ist ohnehin noch etwas drin."
Neugierig sah er Roger und Eleanor hinterher, als sie den Raum verließen. Er hatte die Demoiselle ehrlich gern, konnte jedoch noch immer nicht die eigenartige Macht erkennen, die sie über Roger FitzGilbert hatte. Es wäre leichter zu verstehen gewesen, wenn sie nicht mit Roger verwandt gewesen wäre. Es gab auf Erden keine Frau, die Jean so hätte rühren können, wie Eleanor de Nantes Roger FitzGilbert rührte.
Der Herbergshof war jetzt leer. Die Leute, die ihn vorher bevölkert gehabt hatten, waren zum Essen gegangen oder hatten bereits ihr Nachtlager aufgesucht. Der immer noch fast volle Mond erhellte friedlich den offenen Platz, während Nachtinsekten durch die Luft flogen.
„Ich hasse die Art, wie ich jetzt aussehe", murmelte Eleanor, derweil sie Roger beim Arm ergriff und mit ihm zu einer verlassenen Bank ging.
„Nein, du bist schön."
„Sag mir die Wahrheit, Bruder. Könntest du eine Dame lieben, die so aussieht, wie ich jetzt aussehe?"
Er blieb stehen und schaute sie einen Moment lang an. Sachlich sagte er dann: „Ja, sogar doppelt so stark, wenn es mein Kind wäre, das sie unter dem Herzen trägt."
„Deinen Sohn", korrigierte Eleanor ihn.
„Nein." Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. „Mein Kind."
„Du kannst nicht leugnen, dass alle Männer Söhne haben wollen."
„Nur Gott entscheidet, was ein Mann im Leben bekommt, Lea. Nicht alle Männer sind wie Gilberts, und du tätest gut
daran, das nicht zu vergessen. Unter uns Männern gibt es solche, die in erster Linie ihre Frau lieben, und erst dann die Kinder, falls sie welche bekommen."
„Und wenn sie das nicht tun? Roger, die Liebe meines Vaters zu meiner Mutter verwandelte sich in Hass, weil sie keinen Sohn gebar."
„Lea, ich wiederhole, was ich gesagt habe. Nicht alle Männer sind wie Gilbert."
„Nun, ich denke immernoch, dass es anders sein wird, wenn du verheiratet bist, Bruder. Dann wird es dir um deinen Erben gehen."
Roger zuckte mit den Schultern. „Denk, was du willst, aber es liegt mir wirklich nicht viel daran, eine Dynastie zu gründen. Falls meine Frau sich als unfruchtbar erweisen solle, wäre das ein Anlass zur Traurigkeit für uns beide, aber ich würde ihr nichts anlasten, wofür sie nichts kann. Außerdem könnte es meine Schuld sein. Ich denke seit langem, dass deine Mutter keine Söhne geboren hat, weil Gilbert keine gezeugt hat."
„Marie kann sich sehr glücklich schätzen", murmelte Eleanor.
„Marie?" Scharf schaute Roger Eleanor an und fasste sich dann. Sie glaubte also, Marie de Coutances sei die Dame, die er liebe. Nun, es konnte nichts schaden, sie das für den Moment denken zu lassen. „Oh . . . ja."
Sie empfand einen Stich der Eifersucht und versuchte, sich auf Rogers Gewinn statt auf ihren Verlust zu konzentrieren, um sich den Schmerz zu lindern. „Marie ist sehr schön, Bruder", brachte sie heraus.
„Ja, das ist sie", stimmte
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