023 - Das Kastell der Toten
Francesca war kleiner, jünger, lebhafter. Das schwarze Haar fiel ihr lockig auf die Schultern, die Augen leuchteten in einem hellen intensiven Grün. Sie war es, die Dave als erste die Hand entgegenstreckte, eine schmale kühle Hand, und für einen Moment spürte er ihre spitzgefeilten Nägel wie Krallen auf der Haut.
»Willkommen«, sagte sie. »Wir freuen uns immer, wenn Besuch da ist. Man fühlt sich sonst leicht ein wenig einsam hier.«
»Leben Sie denn ganz allein auf dem Schloss?« fragte Dave höflich.
Die grünen Augen funkelten ihn an. »Nicht ganz allein. Marcello haben Sie sicher schon gesehen. Und sonst ist auch noch unsere Schwester Philippa da. Sie macht einen Ausflug.« Der funkelnde Blick zuckte ganz kurz zu Tessa hinüber. »Ich glaube, sie ist schon wieder mit einem Mann unterwegs.«
»Sie ist erwachsen«, schaltete sich Anna ein. Ihre Stimme klang dunkel und so leise, dass man unwillkürlich aufhorchen musste, wenn sie sprach. Sie lächelte kühl und machte eine umfassende Geste mit der Rechten. »Fühlen Sie sich wie zu Hause, Mr. Connery. Tessa, zeige unserem Gast bitte sein Zimmer.«
Tessa nickte nur.
Auf einen Wink folgte Dave ihr die gleiche Treppe hinauf, über die vorhin der schöne schweigsame Diener verschwunden war. Von der Galerie zweigte ein schmaler, mit kostbaren Seidentapeten ausgeschlagener Flur ab. Nach wenigen Metern gabelte er sich. Ein bogenförmiger Durchgang führte in einen zweiten Flur, der parallel zu verlaufen schien, über eine Treppe ging es wieder ein Stück nach unten — und schließlich, als Dave völlig die Orientierung verloren hatte, öffnete Tessa eine breite, mit dunklen Intarsien verzierte Tür.
Ein Baldachinbett, dunkle Teppiche, Gobelinsessel, ein Marmortisch — das alles nahm Dave nur am Rande wahr. Er starrte zum Fenster. Es war groß, ebenso breit wie hoch und bot eine herrliche Aussicht über die Bergwelt der Abruzzen. Tiefrot hing der Glutball der untergehenden Sonne im Weste», färbte die Gipfel dunkelviolett, flutete durch die Scheiben und schien den ganzen Raum in ein düsteres, blutiges Rot zu tauchen.
»Es ist das schönste Zimmer, das wir haben«, sagte Tessa leise. »Die Sonnenuntergänge sind herrlich. Sieh nur — wie ein Feuer, das die ganze Welt in Brand setzt, alles in Blut taucht. .«
Die letzten Worte hatte sie leise gemurmelt, wie zu sich selbst. Dave spürte einen Schauer auf der Haut. Reglos und gebannt starrte er in die Sonnenglut, spürte Tessas verwirrende Nähe — und sah fast erschrocken die tanzenden, glitzernden Funken in ihren Augen, die dem Glühen des Sonnenballs zu antworten schienen.
Tessa atmete tief, und der Zauber zerbrach.
»Gehen wir hinunter«, sagte sie sachlich. »Du wirst hungrig sein, Lieber.«
Dave war tatsächlich hungrig, das kam ihm zum Bewusstsein, als er Tessa in die Halle zurückfolgte und den gedeckten Tisch sah. Marcello trug Platten mit kaltem Fleisch auf, Butter, duftendes Weißbrot, Käse und Wein. Anna und Francesca hatten bereits Platz genommen. Die Mahlzeit verlief in einer Atmosphäre ungezwungener Heiterkeit, und als Marcello später den Tisch abräumte, hatte Dave fast vergessen, dass er sich in der Halle eines Schlosses aufhielt und nicht im Esszimmer einer normalen, beliebigen Wohnung.
Der Abend verging damit, dass die drei schönen Schwestern ihm das Schloss zeigten — oder jedenfalls einen Teil davon. Auch diesmal verlor Dave in dem Gewirr von Fluren und Zimmerfluchten rasch die Orientierung. Er sah Säle mit endlos langen Tischen, kleine behagliche Kaminzimmer, Räume voller kostbarer alter Möbel, Bilder und Teppiche. Überall brannten Kerzen, die Marcello lautlos und unauffällig anzündete und ebenso lautlos hinter ihnen wieder löschte. Der schweigsame Diener schien überall gleichzeitig zu sein. Er bewegte sich wie ein Schatten, tauchte unvermutet auf, verschwand unvermutet. Außer ihm waren ein paar Katzen die einzigen Lebewesen, die ihnen begegneten.
Gegen zehn Uhr zogen sich Anna und Francesca irgendwohin zurück. Dave saß noch eine Weile mit Tessa in der Halle zusammen, trank ein Glas Wein — und schließlich tauchte Marcello auf, um ihn wieder in sein Zimmer zu führen.
Diesmal versuchte Dave, sich den Weg zu merken. Er bedankte sich bei Marcello. Als die Tür hinter ihm zufiel, fragte er sich, ob der junge Diener wohl stumm sei oder weshalb er sonst noch nicht ein einziges Wort gesprochen hatte.
Die Müdigkeit ließ ihn die Frage vergessen. In einem Nebenraum
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