023 - Das Kastell der Toten
versichern. »Ich weiß es! Ich werde keine Ruhe geben, bevor ich ihn gefunden habe.«
»Ja«, sagte Tessa leise. »Ja, Sie werden ihn finden...«
Er sah sie an.
Irgendetwas geschah zwischen ihnen, er spürte es. Es war, als habe sich ein Stromkreis geschlossen, der sie nun beide verband.
»Werden Sie mir helfen, Tessa?« fragte er.
Sie nickte. »Ich werde es versuchen, David. Kommen Sie jetzt. Es wird bald dunkel, und ich brauche ein Zimmer für die Nacht.«
Sie gingen den schmalen, gewundenen Weg zurück. Vor dem Dorf trennten sie sich — Tessa wies lächelnd auf das Gerede hin, das ihr gemeinsames Auftauchen nach sich ziehen würde. Dave verstand sie nicht ganz, da sie schließlich auch gemeinsam weggegangen waren, aber er sah keinen Grund, ihrem Wunsch zu widersprechen.
Er ließ sich auf einem Stein nieder, zündete sich eine Zigarette an und blickte der schlanken Gestalt nach, bis sie um die nächste Biegung verschwunden war.
Seine Gedanken wanderten, kreisten um seinen Bruder, um Tessa. Deutlich glaubte er, Jims offenes braungebranntes Jungengesicht vor sich zu sehen. Ein anderes Gesicht schob sich dazwischen. Tessa. Zarte, durchscheinende Züge und bernsteinfarbene Augen. Ganz flüchtig dachte er auch noch einmal an das Geschehen auf dem Plateau, an den toten Schäfer, aber er spürte, dass dieses Ereignis bereits begann, im Dunkel der Vergessenheit zu versinken.
Als er das Gasthaus betrat, war Tessa nicht mehr zu sehen.
Er aß eine Kleinigkeit, dann ging er in sein Zimmer hinauf. Gewohnheitsmäßig und ohne darüber nachzudenken, stellte er wie jeden Abend die Schale Milch für die kleine Kartäuserkatze vor die Tür.
Aber als er später noch einmal sein Zimmer verließ, war die Milch immer noch unberührt.
Die Katze war nicht gekommen...
***
Dave wusste selbst nicht, was ihn am nächsten Morgen wieder auf das Plateau hinauftrieb.
Er hatte sich bei dem dicken Wirt nach Tessa erkundigt und erfahren, dass sie schon sehr früh weggegangen war. Im Dorf konnte er sie nirgends finden. Vor dem Polizeirevier parkten ein paar Wagen, die er noch nie dort gesehen hatte — vermutlich die Fahrzeuge der Mordkommission, die den Tod des alten Schäfers untersuchte. Offenbar hatten die Beamten ihre Untersuchungen auf dem Plateau bereits abgeschlossen. Jedenfalls begegnete Dave niemandem, als er zur Kirche ging, und konnte unbehelligt den schmalen staubigen Felsenpfad hinter dem Friedhof einschlagen.
Das Plateau war so leer wie am Vortag. Dave vermied es, der Mulde zwischen den Felsen zu nahe zu kommen. Er zögerte einen Moment, dann überquerte er rasch die Hochfläche und blieb vor dem brüchigen Drahtzaun und den Totenkopftafeln stehen.
Montsalve verschwamm im Dunst, schien zu leben, zu zittern in der flimmernden Hitze. Das alte Gemäuer wirkte unwirklich, verfallen, unbewohnt. War es möglich, dass dort Menschen lebten? Ein junges modernes Mädchen wie Tessa de Conti? Dave presste die Lippen zusammen, tastete nach seiner Sonnenbrille und fragte sich dabei, was er überhaupt hier suchte.
Er wusste es nicht.
Er wusste nur, dass dieses Schloss in den Felsen eine seltsame Anziehungskraft auf ihn ausübte, dass der Anblick ihn förmlich zu bannen schien, und zum ersten Mal spürte er das leise, undeutbare und doch unzweifelhaft gegenwärtige Gefühl des drohenden Unheils.
Er wollte sich umdrehen, zurückgehen — doch im gleichen Moment hörte er das Geräusch hinter sich.
»Hallo«, sagte eine dunkle, weiche Stimme.
Dave zuckte zusammen.
Er hatte Tessa nicht kommen hören. Aber sie war da. Sie stand an einen Felsblock gelehnt, heute ganz in Schwarz, mit einer leichten Bluse und knappen, schmiegsamen Wildlederhosen, ihre Haut schimmerte weiß wie Marmor in der Sonne, und die großen bernsteinfarbenen Augen glitzerten.
»Hallo, Dave«, wiederholte sie leise. »Gefällt es Ihnen?«
»Was?« fragte er verwirrt.
Sie lächelte. »Montsalve Meine Heimat.«
Er starrte zu dem Schloss hinüber, zu den hochragenden Zinnen.
»Ich weiß nicht«, murmelte er. »Es sieht... unheimlich aus.«
»Unheimlich? Aber nein!« Tessa trat neben ihn, so dicht, dass er den Duft spüren konnte, der aus ihrem Haar aufstieg. Ein seltsam strenger, herber Duft. »Alle meine Vorfahren haben hier gelebt«, erzählte sie leise. »Früher, ja — früher mag es ein unheimlicher Ort gewesen sein. Meine Ahnen erpressten hohe Zinsen von den Bauern, und sie überfielen Reisende, die sich hierher verirrten. Von einem, Arcaro de
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