023 - Das Kastell der Toten
Montsalve, hieß es auch, dass er schöne junge Mädchen entführte. Sie waren eines Tages nicht mehr da, verschwanden auf Nimmerwiedersehen in den Mauern des Schlosses und ...«
Sie verstummte.
Dave war zusammengefahren. Hart presste er die Lippen zusammen. Die letzten Worte waren ihm unter die Haut gegangen, und Tessa schien es zu spüren.
Sie lächelte wieder. Ganz sanft berührte sie seinen Arm.
»Aber das ist lange her«, meinte sie. »Es sind Sagen, Legenden. Montsalve ist einfach nur ein altes Schloss wie viele andere, verfallen, unrentabel und viel zu teuer, um es auf die Dauer zu erhalten.«
»Und warum leben Sie dort?« fragte Dave.
»Oh! Das ist eine andere Sache. Meine Schwestern und ich — wir lieben Montsalve. Wir sind — nun ja, wir sind wohl ein wenig altmodisch. Sie als Amerikaner werden das nicht verstehen können. Aber hier in Italien ist man noch dort verwurzelt, wo man geboren wurde. Wir sind hier aufgewachsen. Nach dem Tod unserer Eltern haben wir eine Zeitlang in Rom gelebt. Zwei meiner Schwestern studieren dort, ich selbst arbeite in Neapel. Aber von Zeit zu Zeit kommen wir immer wieder hierher zurück. Montsalve ist unsere Heimat und wird es bleiben. Auch ohne elektrisches Licht, ohne fließendes Wasser und all die Errungenschaften der Zivilisation.«
Dave runzelte die Stirn. »Es gibt keinen Strom dort?«
»Es gibt keinen Strom«, bestätigte Tessa lachend. »Für Sie mag das unvorstellbar sein, aber wir fühlen uns ganz wohl mit Kerzen und Brunnenwasser. Montsalve ist wunderbar. Sie müssen es sehen, Dave.«
Er nickte und versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln. »Gern, wenn ich darf.«
Sie lächelte ihn an. »Natürlich dürfen Sie.« Und nach einem kurzen Zögern: »Kommen Sie nach Montsalve, Dave, und bleiben Sie so lange, wie Sie möchten. Sie können Ihre Nachforschungen auch von dort aus betreiben. Wollen Sie?«
Ihre Bernsteinaugen waren auf sein Gesicht gerichtet. Forschend, erwartungsvoll. Ganz flüchtig fiel ihm auf, dass ihn diese Augen an irgendetwas erinnerten, aber er vergaß es sofort wieder.
»Ich werde kommen«, sagte er. »Ich danke Ihnen, Tessa.«
Sie nickte.
Einen Moment lang blieb sie reglos stehen, seltsam unschlüssig, dann hob sie mit einer langsamen, weichen Gebärde die Arme. Ihre Hände berührten seine Wangen, schmale kühle Hände, leicht und schwerelos wie Schmetterlingsflügel. Ganz sanft zog sie seinen Kopf zu sich herunter, presste ihre Lippen auf seinen Mund — und sein Bewusstsein versank taumelnd in der unendlichen Süße dieses langen, leidenschaftlichen Kusses.
Tessas Augen blieben weit geöffnet. Augen wie heller, durchsichtiger Bernstein, deren Blick sich in der Ferne verlor...
***
Am Nachmittag des gleichen Tages machten sie sich mit Daves Wagen auf den Weg nach Montsalve.
Tessa wies ihm die Richtung. Sie mussten einen weiten Bogen fahren. Zuerst hatte Dave den Eindruck, dass sie sich immer weiter von dem Schloss entfernten. Aber dann bog er auf Tessas Anweisung von der Straße ab, steuerte den Wagen über eine fast unpassierbare Piste durch eine enge Schlucht und geriet schließlich auf einen schmalen, unbefestigten Fahrweg, der sich in abenteuerlichen Kurven und Spitzkehren durch das kahle Bergland wand.
Es dauerte fast eine volle Stunde, bis das Schloss, das von dem Plateau aus zum Greifen nahe gewesen war, wieder in ihr Blickfeld geriet.
Ganz plötzlich tauchte es hinter einem scharfen Felsenvorsprung auf. Ein Geröllfeld erstreckte sich bis zu der schroffen, fast senkrecht ansteigenden Wand, und die Zinnen von Montsalve hoben sich schwarz vom roten Abendhimmel ab. Dunkel und drohend ragten sie empor, uneinnehmbar, seltsam losgelöst von der Landschaft. Wieder überkam Dave das unbehagliche Gefühl vom Morgen. Er spürte eine ungewisse Furcht in sich aufsteigen — aber Tessas ruhige, sanfte Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Den meisten Besuchern ist Montsalve aus dieser Perspektive nicht ganz geheuer«, meinte sie lächelnd. »Dir scheint es ähnlich zu gehen. Ich glaube, auch ihr nüchternen Amerikaner seid noch empfänglich für die Faszination der Vergangenheit.«
Dave lachte ein wenig gezwungen.
»Die meisten der ach so nüchternen Amerikaner sind ganz verrückt auf alte Ruinen«, Sagte er. »Das bisschen Tradition, dass es bei uns gibt, wird gehegt und gepflegt. Und es haben schon verdrehte amerikanische Millionäre ganze europäische Schlösser Stein für Stein in ihre Heimat
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