023 - Das Kastell der Toten
eigentlich schon hier? Zwei Tage und zwei Nächte, rechnete er. Unruhige Nächte — und Tage, die ihm jetzt wie lange, leere Kadenzen vorkamen. Er war in Italien, um seinen Bruder zu suchen. Nicht, um Schlösser zu besichtigen, und nicht wegen einer Liebesaffäre. Einer Affäre, die nicht einmal eine war! Sein Widerwille wuchs. Für einen winzigen Moment der Klarheit schien ihm Tessas lächelndes Gesicht nichts anderes zu sein als ein schönes, ungreifbares Trugbild, das ihn vom Weg abgebracht und in die Irre gelockt hatte.
Doch schon Minuten später verflogen diese Gedanken wieder wie ein Spuk.
Philippa kam.
Philippa, die jüngste der Schwestern, mit einem jungen Mann im Schlepptau, dessen bloße Gegenwart genügte, um unklare Gefühle, Ahnungen und Ängste sofort ins Reich des Lächerlichen zu verbannen.
Er hieß Björn Springdaal, und er stammte aus Schweden. Ein kräftiger, untersetzter Bursche mit breiten Händen, breitem,- markantem Gesicht und blondem Stoppelhaar. Seine blauen Augen waren klar wie Bergseen, sein Händedruck fest und zupackend. Er schien die Ausstrahlung von gebündelter Energie mitzubringen, als er die Halle betrat. Mit der blonden Philippa an seiner Seite wirkte er wie die leibhaftige Verkörperung des Unkomplizierten und Normalen.
Philippa hatte nichts von Annas marmorner Kühle, nichts von Francescas sprühendem Feuer und nichts von Tessas geheimnisvollem Zauber. Sie war jung, hübsch, sportlich — ein Teenager wie tausend andere. Ihre Schwestern begrüßte sie herzlich und ungezwungen, Dave mit sichtlicher Neugier, und mit ebenso sichtlichem Stolz stellte sie ihre Eroberung vor.
Björn Springdaal grinste unbekümmert.
»Mein Kompliment«, sagte er. »Phil hat mir viel von der Schönheit ihrer Schwestern vorgeschwärmt. Ich wollte es nicht glauben — aber die Wahrheit übertrifft ihre Schilderungen bei weitem.«
»Philippa übertreibt — wie immer.« Es war Anna, die das sagte. »Haben Sie schon gefrühstückt, Signore Springdaal?«
»Habe ich. Aber nach der staubigen Fahrt würde ich mich ganz gern ein wenig frisch machen.«
»Selbstverständlich, Signore Springdaal. Philippa, würdest du unserem Gast sein Zimmer zeigen?«
Philippa nickte nur und ging voran in einen anderen Trakt des Hauses. Dave fragte sich, ob wohl auch Björn Springdaal in den Bann dieser rätselhaften Atmosphäre geraten würde. Er selbst fühlte sich durch die Anwesenheit des robusten jungen Schweden seltsam beruhigt. Als sei irgendetwas Bedrohliches verschwunden, plötzlich zurückgewichen! Erleichtert atmete er auf, zündete sich eine Zigarette an und schob seinen Stuhl zurück, um Tessa nun doch beim Füttern der Katzen zu helfen.
Nach dem Mittagessen nahm er seinen Wagen, um sich ein wenig in der Umgebung umzusehen. Tessa versuchte nicht, ihn davon abzubringen. Blindlings fuhr er die Straßen ab, die auf der Karte verzeichnet waren, erforschte Seitenwege, wagte sich auf abenteuerliche Pisten, die sein Bruder vielleicht eingeschlagen haben konnte. Immer noch hoffte er, eine Spur zu finden, einen Hinweis auf einen Unfall oder etwas Ähnliches, aber bei Anbruch der Dämmerung musste er ergebnislos nach Montsalve zurückkehren.
Björn Springdaal und die vier Schwestern saßen in der Halle. Springdaal erzählte von Schweden, mit lauter, sonorer Stimme. Philippas Augen hingen hingebungsvoll an seinen Lippen. Auch die anderen schienen sich gut zu unterhalten. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, kam Dave die große düstere Halle anheimelnd und behaglich vor.
Man hatte mit dem Essen auf ihn gewartet. Es gab ein raffiniertes italienisches Gericht, das er noch nicht kannte und das scharf genug gewürzt war, um ihn etwas mehr Wein trinken zu lassen als sonst. Nach dem Essen bat Anna die ganze Gesellschaft in eins der kleineren, behaglicheren Zimmer, wo schon eine neue Flasche Wein bereitstand, und der Abend verging mit angenehmem und unverbindlich dahinplätscherndem Geplauder.
Dave fühlte sich wohl, als er kurz vor Mitternacht zu Bett ging. Im Gespräch hatte er festgestellt, dass er eine Menge Interessen mit Björn Springdaal teilte. Der handfeste junge Schwede zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt von der Atmosphäre auf Montsalve. Sein schlichter und unbeirrbarer Realismus hatte es fertiggebracht, dass auch Dave zum ersten Mal völlig frei war von dem Gefühl, mehr und mehr in den Bann einer irrationalen Kraft zu geraten.
Er duschte, machte Toilette und trank zwei Gläser von dem eiskalten
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